June 8, 2010

Christliche Beschwörungen der Schlange


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten

Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 1, pt 2, pt 4, pt 5
S. 76)
Wegen der vielen heißen Pflanzen, die während der puestos gebraucht werden, müssen alle Beteiligten in den nächsten Tagen alles Kalte meiden. Sie dürfen sich nicht baden, dürfen nichts kaltes essen. Die Zeit, in der diese Verhaltensregeln (cuidos) gelten, ist die letzte Phase der Behandlung. Sie soll alle Beteiligten, besonders aber den Patienten in das normale Leben zurückführen. Die Rückkehr des Geistes an seinen angestammten Platz im Körper wurde mir immer wieder als Lichterlebnis und Hitzestoß beschrieben. Es tritt meist in den nächsten drei oder vier Tagen nach dem Ritual ein.
Heilungen sind in jedem Fall ein erneuter Durchgang durch die Wildnis, aus der alle Lebenskraft stammt, die aber auch tödliche Gefahr birgt. So ist verständlich, warum nach solchen Ritualen dieselben Verhaltens- und Speiseregeln wie für die Wöchnerin und die Menstruierende gelten, die ebenfalls eine Phase der Wildnis durchlaufen, die Erneuerung und Leben bringt. Aber, wie bereits gesagt, entwickelt sich jede Behandlung anders. Meist stellen sie Mischungen von Praktiken aus dem Bereich der sobaderos, rezanderos, sopladeros, hierbateros usw. dar. Dann gibt es wieder Behandlungen, in denen der Patient nur erlebt, wie der Heiler singt oder Wasser bespricht. Ein Mann aus Cumbitara erzählte mir, dass ihn ein Medizinmann von seinen Verdauungsbeschwerden befreit hat, indem er in den Wald ging und einen Knoten in eine Liane machte. Ein anderes Mal besuchte der Behandelnde nur als Geist seinen Patienten in der Nacht. Es gibt ebenso viele Wege, einer Person das richtige Maß an Geist zurückzugeben, wie es Möglichkeiten gibt, dieses Maß zu verlieren.
Die Aufgaben der Medizinmänner beschränken sich aber nicht auf das Heilen. Sie suchen den Ort für Häuser und Felder, reinigen Wohnungen und Menschen vorbeugend von schlechten Einflüssen, verschließen den Körper ihrer Patienten, beeinflussen Wetter und Wasser, sorgen für Glück in der Liebe und im Geschäft, und viele führen auch Schadenszauber aus. Besonders von alten Medizinmännern, die sich nicht zurückziehen, sagt man, dass sie zunehmend ihre Fähigkeiten dazu missbrauchen. Nicht selten werden alte Medizinmänner, die solchen Ruf erlangt haben, von ihren Mitmenschen getötet. Selbst die Richter des Landes erkennen dies bisweilen als einen Akt der Notwehr an. Der Rückzug an einen einsamen Ort schützt die alten Meister vor diesem Risiko.

S. 80 f.)
Die Universität selbst liegt südlich von Popayán auf einem Hügel. Oben auf dem Hügel stehen Häuser mit Blick auf die Vulkane Sotará und Puracé und auf die Westkordillere vom Patia bis hinauf zu den fernen Farallones de Cali.
Als ich vor Jahren einmal durch diese Gegend fuhr, dachte ich, es wäre schön, auf einem dieser Hügel zu wohnen, und dieser Traum erfüllte sich jetzt.
Die Universität war beauftragt, einen Betriebsplan für den Nationalpark von Puracé zu erstellen. Der liegt aber im Zentralmassiv zwischen dem Vulkan Puracé und dem Cutungagebirge. Es ist eine Landschaft von Vulkanen, paramos, Seen und Wäldern. Hier, fast am Äquator, sind die Niederschläge häufig und ergiebig. Fast das ganze Jahr über hüllt sich diese kühle Hochregion in Wolken, die das Land in einen riesigen Schwamm verwandeln. Vier große Flüsse entspringen dort oben. Es sind der Rio Magdalena, der in die Karibik mündet, der Cauca, der sich nach tausend Kilometern getrenntem Lauf mit dem Magdalena vereinigt, der Caqueta, ein mächtiger Zufluss des Amazonas, und der Patia, der die Westkordillere durchbricht und seine Wasser dem Pazifik gibt. [...]

Zuerst freute ich mich darüber, endlich weg zu sein vom Thema Medizin und etwas neues beginnen zu können, bald aber stellte sich heraus, dass für die Bauern der Berge alles auch Medizin ist und Medizin in allem steckt. So wurde aus dieser Forschung ein direkter Anschluss an die Zeit in Tolima. Meine Leute waren jetzt vor allem die Nationalparkwächter, die alle aus den Hängen des Nationalparks stammen. Jedes Wochenende fuhr ich hinauf zu ihnen, und wenn ich nur am Vormittag Lehrveranstaltungen geben musste, hetzte ich mittags noch meinen Jeep über die Holperstraße hinauf bis über die 3.000 Meter.
Monat um Monat durchstreifte ich nun mit diesen Einheimischen die paramos und das Dickicht der Bergwälder. Diese Wälder sind eine unheimliche Welt. Die Bäume sind von Moosen und Epiphyten bewachsen. Berührt ein Ast den Boden, verwurzelt er sich, und so werden verschiedene Stockwerke von Arkaden geschaffen, auf denen dann wieder Bäume wachsen. Jede Pflanze ist in irgendeiner Weise mit den anderen verbunden. Der ganze Wald ist ein gigantisches Lebewesen, und die einzelnen Pflanzenarten sind nur verschiedene Zellen dieses Organismus, der die Berge bis hinauf auf 3.500 Meter überzieht. Welche Ordnung haben die Menschen wohl in ihren Gedanken diesem heillosen Durcheinander gegeben? Sie ausfindig zu machen war meine Aufgabe, und die ließ mich zuerst erschrecken.

Als erstes musste ich lernen, wie man sich in dieser Welt bewegen muss. Wälder, Seen, die Vulkane und Felsen sind das Land der Wildnis, und die fordert ein ganz bestimmtes Verhalten. Sie ist gefährlich: Wenn sie einen nicht mag, schickt sie Regen und Hagel, lässt die Flüsse anschwellen, lässt einen den Weg verlieren und kann sogar Erdstöße erzeugen. Ganz leise muss man da oben sein und bloß keine Angst aufkommen lassen. Wer Angst hat, verstärkt die Gefahren. Das wurde mir einmal sehr eindrücklich beigebracht.
Wir saßen in einer Nationalparkshütte am Feuer und einer schüttete aus einem Kanister Benzin in die Glut. Ich dachte, der spinnt, der schüttet Benzin ins Feuer und stand auf. Darauf erhielt ich eine Standpauke, denn wer Angst hat, der bringe selbst Wasser zum Brennen. Es war auch kein Benzin, sondern Diesel. Angst raubt den Geist, den man braucht, um sich in der Wildnis zu bewegen. Nicht der hat Geist, der gescheite Bücher schreibt, sondern der, der bei Nacht den Weg über einen paramo findet und dabei nicht stolpert und sich nicht erschrecken lässt. Wer Angst hat, schafft das nicht, denn sie verärgert die Wildnis mit ihren Geistern, und der Tod durch Auskühlen in dieser ständig feuchten Welt steht dort oben nahe.

S. 87 f.)
Das Bestimmen der Medizin hängt also vom persönlichen subjektiven Erlebnis des Heilers ab. Er kann nur behandeln, wenn er Krankheit und Medikament selbst in der Wirkung erlebt.
Analog zu dem über die Pflanzen Geschilderten, läuft die Bestimmung von mineralischem Material und von tierischer Medizin. Tiere drücken ihre Kraft in ihrer Beweglichkeit und Wildheit aus. Schlangen sind das Wildeste, gefolgt von Raubtieren und Greifvögeln. Auch giftige Insekten und Amphibien gehören zu den Tieren von besonderer Wildheit. Nachtaktive Tiere sind dabei stärker als Tiere des Tages. Wiederum gibt der Wohnort Kraft, die über die Pflanzen und Beutetiere aufgenommen wird. Harte Teile des Tieres, wie Knochen, Klauen, Schnäbel, Hufe und Geweihe konzentrieren die Kraft in besonderem Maße. Fett und Galle sind durch ihren Geruch und Geschmack ganz besondere Stoffe. Das Fleisch ist umso kräftiger, je mehr Eigengeschmack es besitzt. Wiederum muss der endgültige Wert von Steinen und von tierischem Material durch die Töne, die Farben und die Zuckungen erkannt werden.

Kaum hatte ich dies in seinen Grundzügen verstanden, kam schon die nächste Überraschung. Jene, die die meisten Pflanzen, Knochen, Klauen, Schnäbel, Steine etc. verwenden, mögen gute Heiler sein, stellen aber nicht die Hohe Schule der einheimischen Medizin dar. Die großen Meister brauchen selbst kein Yagé und kein Coca mehr, um Farben und Ströme zu erkennen. Nur wenige Male im Jahr nehmen diese Lehrmeister noch diese Pflanzen, um ihre Wahrnehmungsfähigkeit aufzufrischen.
Auch geben sie dem Patienten weniger aufwendig zubereitete Medizin als die weniger gebildeten Medizinmänner. Dafür arbeiten sie mehr mit den Gerüchen der Pflanzen, mit Besaugen an Körperteilen, mit Abstreichen des Körpers mit Pflanzen, Steinen und Knochen und mit dem sogenannten soplo. Der soplo besteht darin, dass der Heiler eine Pflanze kaut, dazu einen Schluck Anisschnaps nimmt und das Gemisch mit dem Mund auf den Patienten sprüht. Man vergleicht den Atem der Schlangen und ihr Fauchen mit dem soplo des Medizinmannes. Dabei vergesse man nicht, dass auch die Urgewalten der Natur wie Blitz, Wasser und Wind Schlangen sind.
(Christliche Beschwörungen der Schlange, die besonders aus religiöser Sicht ob der Verführung Evas und des damit verbundenen Paradiesverlusts in höchstem Maße verfolgungswürdig erscheint, sind seit dem 9. Jh. nachweisbar.)
Nach einem Jahr hatte ich lange Listen von Pflanzen, weil im Wald kaum ein Gewächs steht, das nicht benutzt wird. Aber über die Anwendung lässt sich konkret nicht mehr sagen, als dass sie aus der Interpretation der senas und pintas resultieren. Damit haben wir aber die Grenzen der Beschreibbarkeit erreicht und auch schon überschritten. Wer den Umgang der Andenbauern mit den Pflanzen lernen will, der muss fühlen, riechen, schmecken und selbst hören, denn jedes Ding hat seinen Klang, in dem seine Essenz liegt. Das geht soweit, dass der Medizinmann, der den Ton einer Pflanze kennt, das Gewächs nicht braucht. Er wendet sie an, indem er ihren Ton singt.

S. 92)
Oberhalb der Waldgrenze verflacht das Gelände. Hier beginnt die ausgedehnte Hochfläche des Paramo de Turrebamba. Die paramos, also die Hochregionen über der Waldgrenze, sind ebenso von der Kraft der Geister geladen wie der Punturco. Hier – auf den meist regenverhangenen Hochflächen – treffen wir auf die puma, die Frau des jucas. Die des Sotará ist von solcher Anziehungskraft, dass ihr kein Mann widerstehen kann. Hat sie ihn in ihre Arme gelockt, zeigt sie ihren eigentlichen Charakter, wie wird zur puma, die den Geliebten mit einem Biss tötet.
Doch nicht nur wegen der pumas stellen die paramos Gegenden voller Gefahr dar. Diese geht auch von den vielen Seen und Seeaugen aus, die auf den paramos liegen. Man spricht von den Seen, in denen die Wasser zur Welt kommen. Hier liegen direkte Eingänge und Ausgänge für die Unterwelt. All diese Seen können wild werden. Dann erzeugen dieselben Nebel, um den Wanderer zu verwirren, oder Regen, Hagel und Wind.
Diese enorme Kraft verursacht bei einem Menschen, der nicht gelernt hat, diese Stärke zu nutzen, Schwindelanfälle. Die Medizinmänner baden von Zeit zu Zeit in diesen eiskalten Gewässern, um ihre persönliche Kraft zu vermehren. Sie müssen dort tauchen, wo der Abfluss den See verlässt. Wer dies aushält, hat die Kraft zum Heilen.

S. 94)
Die paramos gelten als Hort der Wildnis, und die steht in Opposition zur Kirche im Dorf. Wer in den letzten Tagen in der Kirche war, darf nicht dort hinauf gehen, und vor allem darf man dort oben nicht beten. Denn beten bedeutet Angst zeigen, und dies wiederum stimmt den paramo noch wilder.
Angst erzürnt das Meer und Beten bringt den Tod. Aber die Wildheit der paramos wird noch überboten durch die der Vulkane, die aus den Hochflächen aufsteigen. Diese erzeugen Winde, die übers Land wehen, und produzieren selbst ihren Schnee und den Hagel. Die Bauern sagen, sie werfen Eis. Es ist bezeichnend für die andinen Menschen, dass sie das Oberste, nämlich die Vulkane, am engsten mit der Unterwelt verbinden. Für die Coyaimas sind die Vulkane sogar die Beschützer der Fische in den Flüssen, die wiederum dem Unterweltwesen mohan gehören. So treffen sich die Extreme.
Der Vulkan Sotará wird besonders gefürchtet, da er nicht wie sein nördlicher Nachbar, der Puracé, ein Atemloch besitzt. Beide Vulkane stehen untereinander in Verbindung. Im Falle des Erzürnens können sie schwerste Erdbeben auslösen. Die Rioblanquenos sehen das katastrophale Erdbeben von 1983 in Popayán als eine Unterhaltung zwischen Puracé und Soltará an.

0 comments: