June 8, 2010

Die Sternwanderer


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten

Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 1, pt 3, pt 4, pt 5
S. 46 f.)
In einem abgedunkelten Raum bringt die Bauersfrau ihr Kind in hockender Stellung zur Welt. Ins Krankenhaus gehen wenige, weil die Vorgehensweise der Ärzte die Grundfesten der Bauernkultur vergewaltigt. Während der Geburt fließt Blut, kommt ein noch hilfloses Wesen zur Welt und steht die Frau "offen", so ist dem Kind und der Mutter leicht ihre Lebenskraft zu rauben.
Damit werden die Geister auf den Plan gerufen, die ihre Stärke auch dadurch bewahren, dass sie Menschen die Kraft entziehen. Es ist eine der Hauptaufgaben der Hebammen, diese Gefahr abzuwenden. Dazu räuchern sie den Raum aus. Sie verwenden zu diesem Zweck stark aromatische Pflanzen, die wiederum meist aus dem Wildland stammen. Man wehrt also die Wildnis mit ihren eigenen Produkten ab.
Eine besonders gefährliche Phase ist das Durchtrennen der Nabelschnur. Durch das offene Ende könnte nun leicht der Lebensgeist des Kindes entkommen. Dagegen muss der Körper des Kindes zum ersten Mal verschlossen werden. Es werden dazu viele verschiedene Substanzen von Pflanzen und Tieren verwendet. [...] Man badet das Kind in einem Absud aus Pflanzen, die sowohl dazu dienen, Geister zu rufen, wie auch diese abzuwehren. Tabak und Coca sind zwei dieser Pflanzen. Gemeinsam ist beiden, dass sie viel Hitze oder Lebenskraft gespeichert haben. Mutter und Kind verbleiben die nächsten Tage und Wochen in einem abgedunkelten, verschlossenen Raum. Sie müssen vor Wind und dem Mondlicht geschützt werden. Vor allem dürfen sie nicht mit Wasser in Berührung kommen, denn das Wasser ist das Element der Geister schlechthin und würde ihnen so ihre Kraft rauben. Besonders weil in den Krankenhäusern die Wöchnerinnen mit Wasser gewaschen werden, wagt sich kaum eine Bäuerin zum Gebären ins Krankenhaus. Das Personal dort, das aus den kulturfremden Städten stammt, lässt sich aus Besserwisserei zu wahren Verbrechen hinreißen. So erzählten mir Krankenschwestern, dass sie Bauersfrauen festbanden, weil sie sich nicht waschen ließen.

Vier Tage nach der Niederkunft wäscht man im Gehöft die Frau mit einem Wasser, das die Kraft sehr starker aromatischer und bitterer Pflanzen aufgesaugt hat, und so von seiner spezifischen Kälte befreit wurde. Das Kind liegt streng gewickelt neben der Mutter. Man nennt das Umwickeln der Kinder chumbar. Dies soll die schreckhaften Zuckungen der Neugeborenen verhindern. Sie könnten dabei ihren Geist verlieren und sterben.
So bleiben Mutter und Kind abgeschlossen, und der Vater oder jemand aus der Verwandtschaft betreuen sie vier Wochen lang. Nochmals müssen die Mutter und das Kind mit einem Kräuterbad verschlossen werden, bevor sie das Zimmer verlassen. Noch ist der Geist des Kindes sehr lose und leicht vom Körper zu trennen. Viele Handlungen werden vorgenommen, um dem vorzubeugen. In Tolima bebläst z.B. die Mutter aus diesem Grund das Kind vor dem Hinlegen mit dem Rauch einer Zigarre. Dasselbe tut sie, wenn sie an einem Gewässer oder einem Felsen vorbeigehen. Langsam festigt sich der Geist des Kindes.
Aber kaum ist ein Jahr vergangen, beginnt eine neue Phase der Gefahr. Das Kind macht seine ersten Schritte und erschrickt über seine Stürze. Wiederum muss das Kind verschlossen werden. Spätestens jetzt soll das Kind auch getauft werden. Dieses Sakrament entzieht das Kind der Geisterwelt und ist so ein besonders wirksames Verschließen des Körpers. In Tolima hält man es sogar für notwendig, die Taufe zu wiederholen, wenn ein Mensch zu stark von den Geistern bedroht wurde. Trotzdem wird kein Kind aufwachsen, ohne einmal an Schreck zu erkranken. In leichten Fällen merkt man das daran, dass das Kind nicht aufhört zu schreien. Dann nimmt man das Kind auf den Arm, bebläst es mit Zigarrenrauch und ruft mit lauter Stimme: "Mein Kind geh nicht weg, bleib da!" Dies wiederholt man solange, bis sich das Kleine beruhigt. Kinder sind vielen Gefahren ausgesetzt. Nicht nur die Geister lassen nicht ab von ihnen, auch neidische Menschen können sie verhexen. Zum Schutz gegen die Gefahren bindet man den Kindern in all den Teilen Lateinamerikas, in denen indianisches Erbe lebendig ist, eine Schnur ans Handgelenk, an der glänzend rotschwarze Samen aufgereiht sind. Der rote Teil der Samen zieht die Machenschaften der Menschen auf sich, der schwarze die der Naturgeister und Toten. Wenn nun das Kind schädlichen Kräften ausgesetzt ist, zerspringt einer der Samen, aber das Kind bleibt gesund.

Gänzlich unverständlich für Europäer ist wohl auch, warum die Sympathie und die Zuneigung von Fremden ein Kind schwer schädigen können. Bei den Coyaima erklärte man mir das so: Wenn ein Fremder ein Kind anlächelt oder ihm was Gutes tut, verliebt sich das Kind gewissermaßen in diese Person. Der Fremde geht aber wieder, und ein Teil des Geistes des Kindes will bei ihm bleiben. Dieser Teil trennt sich vom Körper und das Kind erkrankt. So kann es geschehen, dass man Fremde auffordert, ein Kind zu schlagen, wenn man diese Gefahr erkannt hat. So verursachte Krankheiten kommen auch bei erwachsenen Menschen und selbst bei Haustieren vor. Man nennt sie mal de ojo, das Üble vom Auge.
Mit dem Heranwachsen des Kindes festigt sich auch sein Geist, und die Gefahr, dass dieser sich vom Körper trennen könnte, nimmt ab. Nach und nach erlernen die Kinder die Arbeiten der Eltern. Mädchen helfen früher mit als die Buben, aber selten kommt das Spiel zu kurz. Meist besuchen die Kinder dort, wo eine Schule in der Nähe ist, diese auch einige Jahre lang und lernen Lesen und Schreiben und oft viel unnützes Zeug, das mit ihrem Alltag nicht das geringste zu tun hat. [...]

Die Kinder werden nun kleine Erwachsene, deren Aufgabenbereich mehr und mehr dem der Großen ähnelt. Spielerisch ahmen sie alles nach, was ihnen vorgelebt wird. Dazu gehört sowohl für Buben als auch für Mädchen das Sexualleben. Dennoch bedeutet der Eintritt der Pubertät wieder einen Einschnitt im Lebenslauf, der den Geist der Person in Gefahr bringt. Diesmal resultiert die Bedrohung aus dem starken Anwachsen der persönlichen Lebenskraft. Sie kann dem Körper leicht zu viel werden und so verloren gehen. Der persönliche Geist sitzt also wieder sehr lose. Da die Heranwachsenden aber wesentlich mehr Kräfte besitzen als Kleinkinder, stellen sie für die Naturgeister und auch für gewisse Menschen eine besonders lohnende Beute das. Einem Pubertierenden seinen Geist zu rauben, gilt als besonders nutzbringend.
Für das Mädchen setzt nun noch dazu Monat für Monat eine Phase voller Gefahr ein, die es bis in die Wechseljahre begleiten wird: die Menstruation. Ihre Lebenskraft, die primär im Blut sitzt, wächst solange an, bis diese sich im Menstruationsfluss den Weg aus dem Körper sucht. Ist das Mädchen nun während dieser Tage einem Umstand ausgesetzt, der ihre Kraft vermindert, versiegt der Blutfluss und die überschüssige Hitze im Blut kann z.B. in den Kopf steigen und schwerste Krankheiten verursachen. Deshalb gelten für die Frau während ihrer Tage eine lange Reihe von Verhaltensregeln. Auf keinen Fall darf sie mit Wasser in Berührung kommen, den Mond sehen und weder auf einem Friedhof noch an einem Ort der Wildnis verweilen. Nicht einmal ihr Mann darf solche Plätze aufsuchen, denn er könnte von dort den Einfluss der Wildnis mitbringen. Fischer und Jäger müssen in diesen Tagen zuhause bleiben. Da sie nun offen ist, wie die Bauern sagen, kann schlechter Einfluss auch in sie eindringen, und zuviel ihrer eigenen Kraft entweicht.
Besonders gefährlich kann ihr der Regenbogen werden, der ohnehin als Krafträuber und Verursacher von Hautleiden gefürchtet ist. Eine Menstruierende kann durch den Regenbogen geschwängert werden. Im Süden der kolumbianischen Anden sagt man, der arco oder cuiche sei ein Frosch, der wie dieses Tier in den Sümpfen lebt. Eine vom Regenbogen Geschwängerte gebäre deshalb nach wenigen Monaten einen toten Frosch.

S. 50 ff.)
Trotz des Eintretens der Menstruation steigt aber die Hitze, die Lebenskraft, des jungen Mädchens an, es gerät in immer größere Gefahr. Ein Teil dieser Stärke findet sich im Haar, besonders im schwarzen Haar. So bevorzugen die Geister junge Frauen mit langen schwarzen Haaren. Um die Mädchen aus der Gefahr zu bringen, feiert man deshalb z.B. in den Bergen Tolimas ein Fest, in dessen Verlauf man dem Mädchen die Haare schneidet und ihm die Geladenen Geld schenken. All dies mindert aber nicht die Notwendigkeit der effektivsten aller Abkühlungen. Soll das Mädchen gesund bleiben, so muss es nun möglichst bald Geschlechtsverkehr haben, der schon im Alter von 13 Jahren als medizinische Notwendigkeit gilt. So konnte sich die katholische Moral auf dem Lande nie durchsetzen. Das Mädchen lebt nun einige Jahre von amane zu amane – längere oder kürzere erotische Beziehungen zu Männern.
Darin unterscheidet sich das Land mit seinen Einzelgehöften grundlegend von den kolumbianischen Kleinstädten, wo sich der Geist Spaniens in dieser Beziehung mehr oder minder verbreitet hat und da oder dort Jungfräulichkeit vor der Ehe zu einem Wert aufgestiegen ist, der erst in den letzten zwei Jahrzehnten wieder zerbröckelt. Ganz im europäischen Denken verhaftet, nennen gewisse Ethnologen die amanes "Probeehen". Wenn man bedenkt, dass z.B. Manuel Quintin Lame Chantre, der große Bauernführer des kolumbianischen Südwestens, in der ersten Hälfte des 20. Jh.s in seiner Jugend im Monat und selbst in der Woche of mehrere amanes hatte, so wird klar, wie verfehlt der Ausdruck "Probeehe" ist. Er beschreibt nur die sexuelle Freiheit der Jugend. Wenn man diese den Mädchen nicht lässt, so droht die Gefahr, dass sie loquitas werden, also geistig verwirrte, hochaggressive Frauen, die sich nackt an die Wege und Straßen setzen und oft auch die Vorbeikommenden mit Steinen bewerfen. Von jungen Frauen und Männern, denen in dieser Zeit die Geister schwer zu schaffen machen, habe ich bereits erzählt.
Nun, dies ist ein Ausnahmefall, auch wenn solche Geschichten nicht so selten sind. Die Eltern eines heranwachsenden Mannes plagt hauptsächlich die eine Angst. Sie fürchten, dass der junge Mann, der nicht beizeiten die Freuden der Liebe mit einer Frau erfährt, homosexuell werden könnte. Schafft es der Jüngling nicht rechtzeitig, sich auf eine amane einzulassen, so drückt ihm der Vater, die Mutter oder sonst ein Verwandter Geld in die Hand, damit er zu einer Prostituierten gehe, die es in jeder größeren Ortschaft gibt.

So beginnt das sexuell aktive Leben für Männer und Frauen in einem Alter, das viele Mitteleuropäer zur Entrüstung hinreißen würde. Obwohl die traditionelle Medizin über viele verhütende und noch mehr abtreibende Mittel verfügt, sind es meist nicht die jungen Mädchen, die sie nutzen. Erst wenn eine junge Frau ein Kind empfangen und geboren hat, fühlt sie sich als richtige Frau. Im Gegensatz zu den Städten finden Kinder auf dem Land leicht Aufnahme. In Tolima geht das so weit, dass Eltern ihre Töchter erst aus dem Haus lassen, wenn sie ihnen ein Kinder hinterlassen. [...]
Irgendwann wird aus einer amane eine feste Beziehung. Man zieht zu den Eltern des Mannes oder auch zu den Eltern der Frau, oder man schafft einen eigenen Hausstand. Im Hochland von Boyaca und Narina, wo der Einfluss der Kolonialgesellschaft stärker war, lässt man meist das Verhältnis vom Priester absegnen, im Magdalenental heiratet kaum ein Paar. Die Bindungen sind deshalb nicht weniger oder mehr stabil. [...]
Allgemein lässt sich über die kolumbianische Bauerngesellschaft sagen: Kein Mann kann ohne Frau zu Ansehen kommen, während bei einer Frau wichtiger ist, dass sie Kinder hat. Erst wenn es ein junger Mann geschafft hat, eine amane in eine feste Beziehung zu verwandeln, gilt er als erwachsen und endgültig dem Kindesalter entwachsen.

S. 58)
Jedes Dorf feiert seine eigenen großen Feste, die das ganze Umland der Einzelgehöfte in Bewegung setzen. In den Dörfern werden Tanzböden aufgebaut, Musikgruppen bevölkern die Straßen und Wanderhuren reisen aus allen Gegenden an. Die Bauernfamilien finden bei Verwandten in der Nähe des Dorfes oder am Dorfrand Unterkunft.
Wer gesund ist, lässt sich kein Fest entgehen, wo von Anfang an Alkohol in Mengen fließt. Die Bauern erklären ihre Motive, auf ein Fest zu gehen, mit dem Sprichwort: "tomo, picho y peleo," d.h., ich trinke, habe ein Abenteuer mit einer fremden Frau und streite. So manche brave Bauernfrau nimmt es an diesen Tagen mit der Treue nicht so ernst. So lassen Eifersuchtsdramen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Dabei wird aber meist nicht der untreue Partner angegriffen, sondern der Nebenbuhler bzw. die Nebenbuhlerin, und das kann leicht zu schweren Verletzungen oder gar zum Tod führen. Je nach Gegend kämpft man mit dem Messer oder mit der Machete. Der Machetenkampf ist bis zu einem gewissen Grad ritualisiert: Zuerst schlägt man mit der Breitseite aufeinander, macht dabei keiner der beiden Kontrahenten einen Rückzieher, so dreht man auf die Schneide und versucht, dem Gegner eine Schnittwunde beizubringen. Dann steht die Menge um die Kampfhähne und feuert sie an. Will dabei kein Blut fließen, so kommt es bei vorgerückter Stunde durchaus vor, dass jemand das Licht löscht, damit endlich einer der beiden zu seinem Ziel kommt. Dass dabei so mancher sein Leben verliert, versteht sich von selbst. Niemandem würde es einfallen, den Sieger dafür bei der Polizei anzuzeigen. Offene Rechnungen können beim nächsten Fest beglichen werden.

Wie sehr der Tod von Menschen bei einem Fest in Kauf genommen wird, zeigt ein Erlebnis aus La Sierra in den Bergen von Cauca. Als ich zum ersten Mal in diese Ortschaft kam, streikte wieder einmal mein Geländewagen. Also machte ich den Dorfmechaniker ausfindig, der den Schaden in einer Viertelstunde behob. Die Zeit reichte aus, mich über die hervorragenden Feste in La Sierra zu informieren. Die seien so gut, dass es jedesmal mindestens drei Tote gäbe, schwärmte der Mechaniker. Frauen fühlen sich von den Kämpfen der Männer um sie geschmeichelt, und nichts ehrt ihre Weiblichkeit mehr, als wenn es dabei einen Toten gegeben hat. Mit Stolz wird die Umkämpfte berichten, "por mi se matan," wegen mir bringen sie sich um. Feste sind derart gefährlich, dass ich, seitdem mein Sohn auf die Welt kam, es vorziehe, diese zu meiden. Jeder weiß um die Gefahr, und doch freut sich ein jeder darauf und möchte das Fest nicht missen. Auf den Festen wird getrunken bis zum Umfallen, und es herrscht Narrenfreiheit, die alle Taten während der Festivität anschließend verzeihen lässt.
Nicht von ungefähr gehört ein rotgekleideter, tanzender Teufel, der niemals spricht, zu jedem Fest im Norden der Anden. Die Wildnis tanzt bei den Festen auf dem Dorfplatz.

S. 60 f.)
Der Todgeweihte wird von Menschen im Traum gesehen, die ihm im Leben wichtig waren. Auch geht er die Plätze ab, die im Laufe seines Daseins von Bedeutung waren. Er holt seine Spuren ein, sagt man (recoge los rastros). Der Tod eines Menschen stürzt seine Angehörigen in tiefe Gefahr: Das Eis oder die Kälte des Todes will ihnen ihre Lebenskraft rauben und bedroht sie mit schwerster Krankheit. Man spricht auch vom Horror des Todes. Davon betroffene Kleinkinder fallen z.B. um Monate in ihrer Entwicklung zurück. Viele Handlungen dienen dazu, diesen Schaden zu begrenzen. Die Bettwäsche muss verbrannt werden, und das Haus räuchert man aus, um ihm das Eis des Todes zu entziehen. In ganz besonderer Weise reinigt man in den Bergen des Cocuy die Kinder. Der Vater muss einen Hirsch schießen oder ein schwarzes Schaf schlachten, das auf dem paramo geweidet hat. Da die Schafe in der Wildnis weiden, besteht ihr Mageninhalt aus den besonders kräftigen Pflanzen, die auf dem paramo wachsen.
In diese geballte Lebenskraft hüllt man die Kinder ein. Dazu gibt man den Mageninhalt in eine Wolldecke, in die man die Kinder dann einwickelt. So rettet man die Kinder vor der Macht des Todes. Geschwächte Menschen dürfen auf keinen Fall zur Beerdigung kommen, denn nun könnte der Verstorbene noch versuchen, den geliebten Menschen mit sich zu nehmen. [...]
Das Eis des Todes gehört zu jedem Friedhof und durchtränkt die Friedhofserde in solchem Maße, dass sie dazu benutzt wird, besonders schweren Schadenszauber durchzuführen. Das Eis des Todes schwächt sich ab, wenn die Fleischteile verwest sind. Vieles von der Persönlichkeit eines Menschen bleibt allerdings in den Knochen erhalten. In Tolima und auch in Teilen der Ostanden herrscht ein regelrechter Knochenkult. Wenn die Fleischteile verwest sind, werden die Knochen besonders von bedeutenden Personen wieder ausgegraben.

Im Calarmagebirge stellt man den Schädel auf ein Brett über der Eingangstüre. Von dort aus wird er das Haus bewachen und durch sein Rumoren unerwünschte Eindringlinge vertreiben. Die Langknochen steckt man in die Felder. Sie pfeifen, wenn sich ein Dieb an die Anbaufrüchte wagt.
Dem Schädel von Medizinmännern kommt noch eine andere Bedeutung zu. Der Medizinmann im Vuelta del Rio macht keinen Hehl daraus, dass er immer den Schädel seines Großvaters und Lehrers als Berater bei sich trägt. Auch sein Bruder nahm sich einen Teil des Schädels, den Unterkiefer, denn der Großvater galt als sehr weiser Mann, und von dieser Weisheit wollte auch er etwas haben. Da sich dieser Heiler selbst für eine außerordentlich gescheite Person hält, hat er bereits seine Söhne angewiesen, seinen Kopf nach dem Tod erst gar nicht zu beerdigen, sondern sofort abzutrennen. Sein Schädel sei das wertvollste Erbe, das er ihnen hinterlassen könne.
Auch die Gebeine des Revolutionärs Manuel Quintin Lame sind inzwischen aus dem Grab verschwunden. Ich nehme an, dass in den Versammlungen des Indianerrates von Tolima, bei denen ausgerufen wird, dass Quintin Lame anwesend sei, zumindest sein Schädel wirklich zum Treffen mitgebracht wird, wie möglicherweise auch die Schädel anderer angerufener Indianerführer, wie Francisco Gonzales Sanchez und Eutimio Timoté.
Die kleinen Knochen eines Toten zermahlt man bisweilen und mischt sie in die chicha. Über den Sinn dieser Handlung gibt es drei Versionen. Die einen sagen, das mache man, um anderen locura aufzuhexen. Dies ist offensichtlich verbunden mit dem Konzept von Besessenheit durch Totenseelen. Andere behaupten, dass Frauen, die chicha verkaufen, auf diese Weise ihre Kundschaft an sich binden. Die dritte Version ist die häufigste: Man trinke die zermahlenen Knochen in chicha, um dadurch berraquera (Mut und Kraft) zu bekommen.

S. 62 f.)
Das schönste Bild vom Leben und vom Tod schildern die Coyaima. Jedermann kann dort die Geschichte von den Menschen und den Sternen schildern. Wenn ein Mensch geboren wird, erscheint am Himmel einer der unzähligen kleinen Sterne. Wie das Kind an Kraft gewinnt, nimmt die Leuchtkraft des Sternes zu, und wenn der Mensch wieder älter und schwächer wird, dann nimmt sein Licht wieder ab, bis es mit dem Tod völlig erlischt. Der Stern ist die eigentliche Persönlichkeit eines Menschen. Man sagt, die Menschen werden Diebe, Mörder, Heiler usw., weil ihr Stern ebenso ist. Der Stern besitzt von Anfang an alle Erlebnisse und alles Wissen, das eine Person im Laufe ihres Lebens erreichen kann. Nur den Heilern bleibt vorbehalten zu erkennen, welcher Stern am Himmel ihr zweites Ich darstellt, doch darauf müssen wir später noch einmal zurückkommen. In der Geburt trennen sich Stern und Mensch, um sich dann in der Todesstunden wieder zu vereinigen. Damit verlöschen aber beide und geben auf der Erde und am Himmel den Platz frei für ein neues Leben. Ich kann nicht beantworten, ob der neue Stern, der nach einiger Zeit an derselben Stelle erscheint, nun dieselbe Persönlichkeit eines Menschen mit gleichem Charakter darstellt, oder ob der neue Stern auch eine neue Persönlichkeit besitzt. Das Wiedererscheinen am selben Platz deutet allerdings auf eine Wiedergeburt hin.
Das Bild vom Lebensgleichlauf von Stern und Mensch lässt auch verstehen, warum das Leben nach dem Tod kein Thema in der Welt der Bauern darstellt. Das persönliche Leben ist ein Teil des Kosmos. Es schwillt an und erlischt, um denselben Vorgang aufs neue einzuleiten.

0 comments: