June 8, 2010

Die Wasserbeschwörer


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten.
Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 2, pt 3, pt 4, pt 5

"Lateinamerika-Studien Online"

S. 34) Tolima, das ist wie das Land in den Nordanden, und trotzdem ist es ein bisschen mehr. Tolima bietet eine Steigerung der Intensität. Es erscheint mir heute wie das kolumbianischere Kolumbien.
Ich war schon ein Dreivierteljahr im Lande, als mich ein befreundeter Kollege aus Deutschland besuchte. Nach wenigen Tagen schon kam er zu dem Schluss, dass es dem berühmten kolumbianischen Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez wohl an Phantasie fehlen muss, weil der ganz normale Alltag hier noch viel verworrener ist als die Geschichte in seinen Werken.

S. 38 f.) Eine unheimliche Macht
Würde mich jemand fragen, wer denn in so einem Landstrich das Sagen hat, so hätte ich mit der Antwort mein liebes Problem. Ist es der kolumbianische Staat? Der ist zwar präsent, aber konzentriert sich auf die Dörfer. Sind es die Guerilleros? Die gibt es zwar auch, und sie dringen immer wieder bis in die Dörfer vor, wirklich okkupiert haben sie aber nur gewisse Gebirgsregionen. Die Großgrundbesitzer sind auch schon längst nicht mehr das, was sie noch in den frühen 70er Jahren waren. Unter dem wachsenden Druck der Indianerbewegung verlieren sie Stück für Stück das Land, das sie sich in der ersten Hälfte des Jahrhunderts unrechtmäßig unter den Nagel gerissen haben. Die Indianerbewegung selbst vertrat in den 80er Jahren nur einen Teil der Bauern. Gerade die traditionellsten unter ihnen hielten von solchem neuen Zeug wenig. Heute gibt es drei verschiedene Gruppierungen, die sich gegenseitig bekämpfen. Auch die alten Caciquen sind längst entmachtet.
Wer schafft nun an auf dem Lande in Tolima? Mit Fug und Recht kann man sagen, es ist der Schadenszauber, er ist eine allgegenwärtige Macht auf dem Lande der Nordanden.

Die Welt der Andenbauern ist auch eine Welt voller Neid, Hexerei und Verwünschungen. Neid und all seine Varianten, wie z.B. Eifersucht, sind die gefürchtetsten aller Emotionen. Schadenszauber ist nichts anderes als bewusst zielgerichteter Neid, weshalb Neid und Hexerei als Synonyme gebraucht werden. Hexerei wird nur bei den zwei entgegengesetzten Emotionen – Neid und Liebe – angewendet. Jedes Kind kennt schon einige Praktiken dazu. Der Gebrauch von Friedhofserde, Salz, Fingernägeln und Haaren des Opfers sowie eigenem Sperma bzw. Menstruationsblut ist allenthalben bekannt. Dazu gibt es wahre Spezialisten für Schadenszauber, die sich dafür auch bezahlen lassen. Die mächtigsten Medizinmänner sind gleichzeitig auch die gefürchtetsten Schadenszauberer. Viele von ihnen nutzen diese Fähigkeit aber entweder überhaupt nicht oder nur dann, wenn ihnen die Sache gerecht erscheint. Sie werden so gewissermaßen zu Polizisten und Richtern. Allein schon die Angst vor Schadenszauber enthält die ungeschriebenen Regeln der Bauerngesellschaft. Die Angst davor treibt nicht wenige Menschen aus ihrer Heimat und zwingt ganze Dörfer auf Wanderschaft, wie es z.B. 1991 in der Gegend von Calima in der Westkordillere geschah. Dem Schadenszauber werden die allerschwersten Krankheiten zugeschrieben. Wenn jemand von Medizinmann zu Medizinmann eilt, ohne Heilung zu finden, so muss besonders starker Schadenszauber im Spiel sein. Schadenszauber erfordert den Kampf zwischen Heiler und Hexer.
Ich will weder von Methoden des Schadenszaubers erzählen, noch lang die Praktiken des Gegenzaubers erörtern. Nur eines sei dabei geschildert, nämlich die Bedeutung der Tierverwandlung von Hexer und Heiler. Wer seinen eigenen Geist so beherrscht, dass er heilen oder auch verfluchen kann, der kann sich auch gewisser Tiere bedienen und sie wie die Naturgeister in alle möglichen Tiere verwandeln. Die Hexer und Heiler bevorzugen gleichermaßen als Hund, Geier, Eule oder Fledermaus aufzutreten. In dieser Form können sie über Personen Erkundigungen einziehen. In dieser Form kämpfen auch die Kontrahenten gegeneinander. So kämpft z.B. der Heiler im Hund gegen den Hexer in der Form des Geiers.

S. 42 f.)
Übrigens: Nach Meinung der Bauern ist der Reichtum des städtischen Geldadels wie auch der der Amerikaner und Europäer auf Raub zurückzuführen. Wurden die Vorfahren nicht einmal überfallen und ihrer Schätze beraubt?
Schadenszauber hilft, Werte und Normen über die Generationen und den Wandel der Zeit hinweg zu bewahren, denn wer von ihnen abweicht, wird früher oder später sein Opfer. Dass trotz aller Veränderungen seit der Eroberung vor fast einem halben Jahrtausend der Geist der Vorfahren so ungebrochen weiterlebt, haben wir u.a. diesem uns wenig sympathischen Teil dieser Kultur zu verdanken. Schadenszauber bremst auch all die Entwicklungswut, die die Regierungen dem Land verordnen möchten, recht wirkungsvoll aus. Betrachtet man diesen Aspekt der Hexerei, so kann man ihren Wert für die Welt der andinen Bauern besser verstehen.

S. 43 ff.)
Zuerst besuchten wir die Weiler am Fuße der Calarmaberge. Die Landschaft dort zwischen Felsen war so richtig nach meinem Geschmack. In kleinen Tälern liegen in dieser Region stattliche Gehöfte, deren Leute sich vor den Fremden häufig verstecken. Wenn man aber auf jemanden trifft, so treten sie mit einer ganz eigenartigen Selbstsicherheit auf. Die Autorität der regionalen caciquen ist nicht zu übersehen. Wenn sie einem hoch zu Ross auf reichgeschmücktem Pferde entgegentreten, merkt man, dass hier ein anderer Wind weht als unten in der Halbwüste, wo man um verlorenes Land kämpfen muss. Schnell verstand ich, warum sich diese Männer nicht der Indianerorganisationen mit ihren städtischen Mitarbeitern anschließen wollen. Die hier sind Könige in ihrem Land und haben sowas nicht nötig.
Nach und nach arbeiteten wir uns vor im Gebirge. Wir suchten das Haus von Eloy, einem berühmten Meister im Beschwören von Wasser ("wesentlicher Bestandteil der meisten Schöpfungsmythen"). Wir trafen ihn selbst niemals an, aber seine Frau erzählte von seinem schwierigen Werdegang, bei dem er sich mit fast allen Geistern treffen musste. Aber ich war ohnehin noch lange nicht fähig, die die Wasserbeschwörer zu verstehen.
Das ist eines der traurigsten Kapitel auf dem Weg zum Verständnis der Bauern in den Nordanden. Das Verständnis des Gebrauches von Wasser als Heilmittel durch die Bauern der Nordanden ist ein Kapitel, das mich selbst mit Scham erfüllt. Mein europäisches Denken hielt mir gerade bei diesem so äußerst wichtigen Komplex die Augen verschlossen.

Seit meinen frühen Besuchen im Cocuy wusste ich, dass Bäder bisweilen bessere Heilmittel sein können, als all die Kräuter, aber allein die Vorstellung, sich in die eiskalten Seen der Gebirge zu tauchen, ließ mich erschaudern. Als ich dann 1979 zum ersten Mal nach Tolima kam, hörte ich bereits davon, dass Wasser und seine Geister den persönlichen Lebensgeist entführen können. Auch wurde mir von einem Mann am Guatavita Tua erzählt, dem dies geschehen ist und der daraufhin schwer erkrankt war. Ein Medizinmann gab ihm nur beschworenes Wasser, das er trinken musste, um seinen eigenen Geist zurückzubekommen. Dies führte zu seiner Heilung. Unverhofft wurde er eines Tages durch das Erlebnis einer Hitzewallung, verbunden mit der Sicht einer Welt voller Licht zu Boden geworfen. Danach war das Leiden spurlos verschwunden.
Bei meinen Aufenthalten in Tolima in den Jahren 1980 und 1981 mehrten sich diese Geschichten. Auch erfuhr ich, dass die Fischer, bevor sie zum Rio Saldana oder zum Magdalena gehen, immer von einem Medizinmann beschworenes Flusswasser trinken, um sich so gegen die gefährlichen Stachelrochen zu schützen, die im Uferschlamm lauern.

Als ich dann 1984 mit einem Forschungsstipendium zurückkehrte, war ich zu sehr verwissenschaftlicht und glaubte, Medizin ohne Chemie sei nicht möglich. So beschränkte ich mich auf die Kräutermedizin und schaute am Wasserkult ("calling the water") einfach vorbei. Dazu kam, dass ich erfuhr, dass zwei Wasserbeschwörer auch José Gregorio Hernández anrufen. Ich hielt sie für Mitglieder einer Sekte. José Gregorio Hernández war ein sehr sozial eingestellter Arzt in Caracas. Auf dem Weg zu einem Patienten verunglückte er tödlich, doch der Patient berichtete, dass er von ihm – also nach seinem Tod – behandelt worden sei. Seitdem ist José Gregorio Hernández ein venezuelanischer Nationalheiliger, der besonders im Maria-Lionza-Kult angerufen wird. Dieser Heilige wird in Statuen als schwarz gekleideter Mann dargestellt.
Auf dem langen Weg von Caracas nach Tolima veränderten sie ihre Bedeutung. José Gregorio wurde zu einem neuen Namen für den alten Donnergeist, und seine Darstellungen wurden zu Abbildern des Donners. Der Medizinmann, der ihn anruft, gehört also keiner Sekte an, sondern steht mitten in der alten Tradition seines Volkes. Aber das lernte ich alles erst viel zu spät. Heiler, die eine Figur dieses Heiligen hatten, lehnte ich zuerst aus meinem Purismus heraus ab. Das Bild von José Gregorio Hernández bei zwei berühmten Wasserbeschwörern verschloss mir zuerst einmal den Blick. [...]
Auch mein alter Freund Eriberto verwendet Pflanzen nur bei denen, deren Geist noch nicht genügend präpariert ist, um die Wirkung von beschworenem Wasser aufzunehmen. Trotz all dem wollte ich die Bedeutung der Wassermedizin noch nicht wahrnehmen. Schämen tue ich mich dafür, diese Ignoranz auch zwei Mal in einem voreiligen Urteil über die Wasserbeschwörer veröffentlicht zu haben.

Im benachbarten Department Cauca wurde ich weiterhin mit der Kraft des Wassers und vor allem der Bergseen konfrontiert, die aus einem Lehrling einen echten Medizinmann machen können. Die großen Meister dieser Region begnügen sich nicht damit, das Wasser in einem Krug davon zu überzeugen, den Lebensgeist eines Patienten wiederherzustellen, sie beschwören selbst ganze Flüsse. Einer dieser Flüsse ist der Istmita zwischen Rosas und Piedra Sentada. Er sammelt die Wasser seines Einzugsbeckens und durchbricht dann in einer Klamm einen Gebirgszug.
Ein Bad in den Gumpen dieser Klamm stellt den Abschluss vieler Behandlungen der Medizinmänner zwischen Popayán und dem Patiatal dar. Heute weiß ich, dass die Heiler, die nach Jahren des Pflanzengebrauchs sich auf Gesänge, den soplo und den Gebrauch von Wasser beschränken, die sind, die höhere Grade erreicht haben. Zu diesem Repertoire gehören auch Traumbesuche. Aber das alles zu verstehen, war mir noch nicht vergönnt. So hätte es auch keinen Sinn gehabt, mich mit Eloy zu treffen. Vielleicht wusste er das auch und vermied so, während unserer Besuche zuhause zu sein.

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