June 8, 2010

Im Gegenteil, er gewinnt an Macht


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten

Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 1, pt 2, pt 3, pt 4
S. 142)
Die Oberfläche war in ständiger Gefahr, erneut von den Wassern verschlungen zu werden. Diese Gefahr ging von gigantischen Schlangen aus, die Seen und Flüsse bewohnten. Bisweilen stiegen sie aus den Gewässern, da sie selbst aber das Wasser waren, schwoll damit der Wasserspiegel an, bis er über die Ufer trat. Die Gewässer vereinigten sich und überschwemmten so die ganze Erde.
Erst Kulturheroen verstanden diese Gefahr zu bannen, indem sie die Schlangen beschworen und sie in felsige Grate verwandelten. So ist auch zu verstehen, wieso für die Bauern Gewässer und Berge wesensgleich sind und von entsprechenden Geistwesen bewohnt werden. In Tolima drückt sich dieser Zusammenhang selbst in den Ortsnamen aus. Viele Berge, Flüsse und Seen enden gleichermaßen auf die Silben arco, irco, erco oder urco, die bedeuten, dass dieser Platz besonders eng mit der Unterwelt verbunden ist.
In Tolima treffen wir auch auf das männliche Gegenstück der mohana, den mohan oder poira. Er wird als behaarter Mann mit besonders großen Genitalien beschrieben. Auch er ist Herr des Wasserlebens. Zu seinen wichtigsten Aktivitäten gehört es, Frauen nachzustellen, denen er in erotischen Träumen erscheint. Er bevorzugt junge, hübsche Mädchen mit langem schwarzen Haar. Vom mohan verfolgte Frauen streifen untertags verwirrt durch die Gegend. Wenn sie nicht rechtzeitig von einem Medizinmann behandelt werden, werden sie bei einem Strudel ins Wasser springen, um sich mit ihrem Geliebten vereinigen zu können, denn unter den Strudeln hat mohan seinen Unterwasserpalast.
Die Einstellung der Frauen zu diesem Wesen ist zweischneidig. Zum einen ist der Ruf des mohan ein Beweis für ihre weiblichen Reize, zum anderen sind sie sich der tödlichen Gefahr bewusst. Mindestens einmal im Leben vom mohan gerufen worden zu sein, gehört zur Rolle der Frau in Tolima. Geschlechtsverkehr von früher Jugend an mindert die Gefahr fataler Folgen. Dadurch wird die Hitze und Kraft der Frauen gesenkt, und sie sind damit eine weniger rentable Beute für den mohan, denn der will auf diesem Wege die Lebenskraft zurückgewinnen, die er in Form von Fischen den Menschen schenkt.
Aber es sind nicht die jungen Frauen, die den engsten Bezug zum mohan pflegen, sondern die Medizinmänner. Sie sind die großen Meister der Heilkunst, und um mohan zu ähneln, lassen sich manche Medizinmänner das Haar lang wachsen.

S. 143)
Der mohan lässt sich auch auf den Höhen der Gebirge wiederfinden. In der Ostkordillere lebt er in Bergseen, Flüssen und in Bergen, die reich an Quellen sind. Auch die Gletscher gehören zu seinem Reich. So ist das Unterste mit dem Obersten verbunden. Der Unterweltsgeist residiert auch auf den Gipfeln, und Schneeberge sind die Beschützer des Fischreichtums der Flüsse, die in ihnen entspringen.
Im Zentralmassiv und in der Zentralkordillere wird der mohan der Berge jucas genannt und ist erklärtermaßen Herr der Wildtiere und Wildpflanzen. Auch in den Höhen der Berge haben diese Geister ihre weibliche Gefährtin. Sie heißt in der Ostkordillere mancanita, im Norden montuma und im Zentralmassiv puma. Beschrieben wird sie als Frau mit sehr großen Brüsten, die die Wanderer verführt, die sich ins Hochgebirge vorwagen. Wenn sie aber dieser Verführung erliegen, zeigt sie ihren wahren Charakter und verwandelt sich in eine puma, die ihrem Liebhaber schnell den Garaus macht. Auch diese Frauen spielen eine wichtige Rolle im Kreislauf des Wassers. Das milchige, trübe Hochwasser wird als Milch aus den Brüsten der puma verstanden. Von den Höhen der Berge, den Seen und den Felsen strömt das Wasser ab, bis es wieder seine Ruhe im Urozean unter der Erde oder in den Meeren findet.

S. 144 ff.)
Es ist zur Mode geworden, Indianer zu Bewahrern des Gleichgewichts zu erklären, und die Welt der Nordanden gehört zu Indioamerika. Wer sich wirklich mit dieser Kultur auseinandergesetzt hat, weiß, dass der Akzeptanz des Ungleichgewichts und sein bewusstes Herbeiführen ein ebenso hoher Stellenwert zukommt. Für die Landbevölkerung Indioamerikas gehört Unordnung zur Ordnung des Kosmos. Sie bringt die Erneuerung der Lebenskraft, die in den Phasen der Harmonie wieder verbraucht wird.
Um diese Philosophie zu begreifen, müssen wir neben dem ständigen Fluss der Lebenskraft guiara das Prinzip von der batida de la tierra, vom Durchwühlen und Umkippen der Welt betrachten. Am ausführlichsten haben mir davon die bereits mehrfach erwähnten Coyaima berichtet. Wir haben bereits gehört, dass für sich auch die trockene Erde mit ihren Bergen dem Urozean entstammt. Seither besteht der Gegensatz zwischen dem Reich der Wildnis in der Unterwelt und der Oberwelt, in der der Wille des Menschen viele Orte prägt. Goldene Weltsäulen stützen die Erde, damit sie nicht im Urmeer versinkt. Somit ist der Jetzt-Zustand einigermaßen abgesichert. Doch die gegenwärtigen Verhältnisse sind nicht für ewig. Die Schwäche dieses Gebäudes zeigt sich bei jedem Erdbeben. Die Unterwelt zeigt in diesen Momenten ihre Nähe und Kraft. Der Stoff der Vorzeit, das Wasser, setzt dabei dazu an, sein verlorenes Terrain wieder zu erobern. So erzählt man, dass wenn die Erde bebt, sich alle Bäche und Flüsse innerhalb kürzester Zeit mit wahren Wasserfluten füllen. Der Status quo der Erde steht in großer Gefahr. [...]

Es gehört mit zur Philosophie der Bauern, dass der, der sich dem Lauf der Dinge widersetzt, verliert, und nur der gewinnt, der geduldig warten kann, bis die Umstände seine Vorhaben begünstigen. Dabei führen häufig Katastrophen die Gunst der Geschehnisse herbei. Wer allerdings große Desaster vermeiden will, muss häufig kleinere verwinden. Diese Gedanke prägt auch die Personen und die Gesellschaft. [...]
Auch die Gesellschaft braucht die Reinigung in chaotischen Zeiten. Dies ist der Grund, weshalb bei den Dorffesten alle Regeln gesprengt werden müssen. Je wilder das Fest war, desto größer die Abkühlung. Solche Veranstaltungen müssen auch ihre Gefahr in sich bergen, und vielerorts ist ein Fest ohne Tote und Verwundete eben kein Fest.
Ist das Konzept von den unausweichlichen und auch notwendigen Phasen der Unordnung und Zerstörung auch der Grund für die allgegenwärtige Gewalt, die besonders Kolumbien so prägt? Friedfertig waren die Menschen dieser Weltenteile wohl noch nie. Interessant sind Anmerkungen von spanischen Chronisten zu den Tairona im Norden des Landes. Bevor diese von einer Pockenepidemie dahingerafft wurden, waren sie den Spaniern über Jahrzehnte hin militärisch durchaus ebenbürtige Gegner.
Erschöpft berichten die zurückgeschlagenen Eindringlinge, dass unter den Tairona selbst der dürrste und älteste glaube, der Krieg sei ein Fest. Von Bolivien bis Mexiko wird von dem Ausspruch berichtet, dass die Revolution wie ein Fest sei. Damit wäre politische Gewalt in Lateinamerika das Resultat einer tiefverwurzelten, alles umgreifenden Philosophie, auf der die gesamte Kultur dieser Weltgegend aufbaut.
Bevor jetzt aber jemand die Nase rümpft und glaubt, diese Leute seien wohl doch in irgend einer Weise Wilde, dem sei kurz zu bedenken gegeben, dass Lateinamerika seit 500 Jahren keine Megakatastrophe erlebt hat, die mit einem der Weltkriege vergleichbar wäre, die in diesem Jahrhundert schon zweimal Europa vernichtet haben.

S. 148 f.)
Einige Kollegen, die es gewagt haben, tief in die Gedankenwelt der Andenbauern und ihrer Verwandten in Amazonien vorzudringen, wurden alle in grausame Lebenskrisen gestoßen. Sie haben aufgehört Wissenschaftler zu sein und sind auf dem Weg in ein neues Leben. Wissenschaftliches Zerpflücken scheitert wohl kaum bei einem Forschungsgegenstand so augenscheinlich, wie bei den Tiefen einer schriftlosen Kultur.
Das Fehlen von selbstverfertigten Schriften der Bauernkultur ist auch ihr großer Vorteil. Bücher der Weisheit sind zwangsläufig eine Lüge, denn die Welt ist viel zu vielfältig, um sich in einem Buch darstellen zu lassen.


S. 150 f.)
In Popayán und seinem Umland hat man für diese zwei kulturellen Welten Begriffe entwickelt, die sich auf die jeweilige Kleidung der Träger der betreffenden Kultur beziehen. So nennt man die nach Europa und Nordamerika ausgerichtete Führungsschicht in Popayán und in den größeren Orten los de corvata oder los corvatudos, während man die von der indianischen Tradition geprägte Bevölkerung los de ruana nennt. Die körperliche Arbeit wie auch der Militärdienst in unteren Dienstgraden wird den enruanados überlassen. Als Synonym für diese Begriffe dient auch campesino, und obwohl man bestrebt ist, das Indianische totzuschweigen, wird für alle los de ruana, wenn sie von weißer bis tiefbrauner Hautfarbe sind, die abwertende Bezeichnung indio verwendet. Menschen afrikanischer Abstammung werden, ganz wie sie leben, immer los negros genannt. [...]
Die dauernden Anordnungen und Belehrungen sowie das ständige Diskriminieren und Lächerlichmachen der Kultur der de ruana-Menschen hat bei diesen ihrerseits eine Barriere aufgebaut, die ein de corvata-Mensch kaum durchbrechen kann und die er bezeichnenderweise la malicia indigena (die indianische Verschlagenheit) nennt.

Im Unterschied zum doctor kennt der Bauer die Welt und das Denken des herrschenden Kolumbiens sehr wohl und nutzt diese Kenntnis zu passivem Widerstand in allen Lebenslagen.
Es ist auch Grundsatz der Bauern, dass man sich mit einem corvatudo nicht unterhält, um nicht belehrt oder gar verlacht zu werden, und dass man vor ihm vor allem nie widerspricht, d.h., ein corvatudo erhält die Antwort, die er hören will. So weiß man z.B., dass bei vielen der corvatudos die traditionelle Medizin als Aberglaube und Scharlatanerie gilt, die die Volksgesundheit gefährdet.
Als Dozent der Universität in Popayán wurde ich am Anfang von den Coconucos zu den corvatudos gezählt, obwohl ich natürlich niemals eine Krawatte trug. Auf die Frage, wohin denn die Frauen zum Gebären gehen, wurde mir überall stereotyp geantwortet: ins Krankenhaus nach Popayán. Auch betonte man, dass es keine traditionellen Hebammen mehr gibt. Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass dieser Ausländer nicht ins Schema corvatudo de ruana passt, stellte sich heraus, dass die Frau eines guten Bekannten eine Hebamme ist, die ihre Tätigkeit mit einer Reihe von Ritualen verbindet. Als nun meine Gesprächspartner bemerkten, dass ich sowieso schon eine gewisse Kenntnis der traditionellen Geburtspraktiken hatte, durfte ich erfahren, dass es sehr viele Hebammen gibt und kaum ein Kind im Krankenhaus geboren wird. Man sagt dem doctor eben das, was die doctores im allgemeinen hören wollen.

Aus demselben Grund spricht man z.B. bereitwillig über die in aller Welt bekannten Heilpflanzen wie Kamille, aber nicht über die in der traditionellen Kultur so wichtigen Pflanzen zum Verschließen des Körpers, weil der doctor ja über das Verschließen des Körpers ohnehin nur lachen würde. Diese Grundhaltung kostet dem kolumbianischen Staat Jahr für Jahr eine Menge Geld.
Außerdem ist bekannt, dass ein Bauer als vernünftig gilt, wenn er Wasserleitungen, Straßen und Schulen fordert. So werden also Wasserleitungen in Gegenden angelegt, in denen es fast täglich regnet und überall klarste Bäche fließen. Analog werden Straßen gebaut, die niemand befahren will und die gleich wieder verfallen, und Schulen errichtet, die niemals von Kindern besucht werden.
Also stehen sich in jeder Region des Landes Menschen zweier Welten gegenüber, die sich gegenseitig durch Ignoranz oder durch malicia abschotten. Diese beiden Welten befinden sich aber in einer ständigen Wechselwirkung, und spätestens seit der neuen Verfassung von 1991, die den Auftrag enthält, die kulturelle Vielfalt zu achten und zu schützen, tauen die Fronten auf. Im siebten Artikel erkennt Kolumbien seinen indigenen Kulturen nach Jahrhunderten der Verfolgung und des Ignorierens und Totlügens zum ersten Mal an. Damit fällt auch jede Verfolgung des Medizinmannes weg. So wird der Zutritt zur Bauernkultur zwar leichter, aber sowohl die ignorancia wie auch die malicia sind dermaßen eingefahrene Verhaltensweisen, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis ein Bauer über Dinge, wie ich sie hier erzählt habe, einem Fremden gegenüber sprechen wird.

S. 152 f.)
Zum Abschluss möchte ich noch ein paar Worte darüber verlieren, wo Sie die indianisch-mestizische Medizinkultur antreffen. Das beschränkt sich nicht auf Kolumbien. Berichte von Mexiko bis Chile ähneln dem, was ich selbst erlebt habe. Es ist also leichter zu sagen, wo Sie davon nichts erwarten können.
Dies sind die Viertel der Wohlhabenden in den Städten, wo viele europäischer als Europa und amerikanischer als New York zur gleichen Zeit sein wollen. Erwarten Sie dort also keine Auskünfte. In manchen Ländern gibt es auch Gegenden mit einer Bauernschaft, die davon wenig weiß. In Kolumbien sind es z.B. die Antioquenos oder Paisas, die im Norden der Zentralkordillere um Cartago, Armenia, Manizales und Medellin leben. Sie gehen auf europäische Siedler zurück. Ähnliches lässt sich von Zentraltal in Costa Rica sagen, während der Norden, der Süden und die Pazifikküste dieses Landes wieder ganz zum indianisch-mestizischen Amerika gehören. Nicht zu dieser Welt gehören natürlich die Nachfahren europäischer Siedler in Brasilien, Chile und Argentinien, und auch die Schwarzen Ostbrasiliens, der Nordwesten Argentiniens, der Norden und mittlere Süden Chiles sowie das Hinterland Brasiliens gehören wieder zum Geist Indioamerikas.
Auf ihn wurde schon so oft der Abgesang angestimmt, aber dieser Geist erweist sich trotz aller Vernichtungsversuche als geradezu unglaublich vital. Die Schwarzen an Kolumbiens Westküste haben heute Medizinmänner, die wie die Heiler der Chocoindianer singen, und in den letzten Jahren häufen sich auch unter den Leuten der feinen Viertel jene, die bei besonderen Leiden einen Medizinmann aufsuchen. Seien Sie beruhigt, der Geist der Indianer ist zu stark, zu lebendig und zu anpassungsfähig, um ausgerottet werden zu können. Ganz im Gegenteil, er gewinnt an Macht.
Die Welt des Geistes ist groß, und Sie können sich vielerorts auf die Reise in ihn hinein begeben. Nur wird diese Reise sehr beschwerlich sein und Sie in Krisen stürzen. Sie müssen dafür viel Zeit aufwenden. Zwanzig Jahre nach meinem ersten Kolumbien-Aufenthalt dachte ich, das wichtigste erfasst zu haben. Dann nahm in an Ritualen teil, die mir zeigten, dass ich wiederum am Anfang eines Weges stehe. Eine neue Reise hat begonnen, ist es die Suche nach meinem Stern?

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