June 8, 2010

Zentrum des bezähmten Lebens


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten

Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 1, pt 2, pt 3, pt 5
S. 96 f.)
Die Bauern stehen der Bezähmung der Wildnis sehr misstrauisch gegenüber. Sie fürchten, dass die Unterwelt kein Wasser mehr geben und der erfrischende Wind ausbleiben wird. Die Welt braucht das Wildland, sonst überhitzt sie, was eines Tages zu einer Katastrophe führen wird. Dann wird die Welt umkippen: die Unterwelt wird zur Oberwelt werden, und die Welt der Menschen wird im Urozean versinken. Die Orte der Wildnis zu bezähmen, bedeutet die Poren der Erde zu verschließen und so den Kreislauf des Wassers zu unterbrechen.
Aber nicht immer ist es falsch, die Wildnis zu bezähmen. Der Mensch kann in der Wildnis nicht leben, zu stark sind dort Geister, Wind und Wetter. Um gesund leben zu können, muss er rund um seine Behausung die Kraft der Wildnis zurückdrängen. Er muss Wälder abbrennen, um seine Felder anzulegen. Aber dies ist nicht der einzige Grund. Er vertreibt dadurch auch die Geister aus seinem Umland, die ihm, seiner Frau und seinen Kindern Schaden zufügen könnten. Aber der Bauer muss wissen, wo er dies macht. Er beschränkt sich auf Flächen, die ihm die Wildnis zur Verfügung stellt. Sie sind relativ flach und mit einem Unterboden aus weichem Gestein. Dort legt er seine Felder an, die er gegen die Umtriebe der Geister zudem mit Hecken einzäunt. Aber nach einiger Zeit ermüdet der Boden. Da alle Lebenskraft aus der Wildnis stammt, muss der Bauer wieder Strauchwerk wachsen lassen, dann kommt die Kraft in den Boden zurück. Diese darf aber auch nicht zu viel werden, denn sonst könnten die zarten Kulturpflanzen dort nicht mehr wachsen.
Das Zentrum des bezähmten Lebens ist das Dorf. Dort bildet wiederum die Kirche die Mitte.

Ich kann mir vorstellen, was viele von Ihnen, liebe Leser, jetzt denken werden: "Achso, die sind Katholiken. Das kennen wir ja schon. Die sind also nicht mehr rein, und ihre Weltanschauung ist ein jämmerlicher Mischmasch. Alle kennen das Vaterunser und das Gegrüßt-seist-Du-Maria." Das sind genau die Marienheiligtümer. Nahezu jede Ortschaft hat ihre Maria, und zu deren Festtagen kommen alle, die sich der Region noch zugehörig fühlen, auch wenn sie weit weg in der Städten wohnen. Lassen Sie mich hier die Geschichte der Maria aus der Höhle von Cuchumba stellvertretend für die von Pancitará, Caquiona, Nataga und so viele andere erzählen, denn all ihre Geschichten sind ähnlich.
Im Cocuygebirge, in einem gewaltigen Hufeisen aus vergletscherten Bergen, stürzt ein Schmelzwasserbach in eine Höhle, die Cuchumba genannt wird. Lange vor der Ankunft der Spanier verehrten die Indianer dort eine Marienfigur, die von einheimischen Priestern bewacht wurde. Als die Spanier die Täler eroberten, stahlen sie auch die Marienstatue. Die Berge erzürnten, bebten, und die Wächter sprangen von einem hohen Felsen aus Verzweiflung in den Tod. Die Spanier brachten die Statue in die Ortschaft Guican und erbauten um sie die Kirche. Aber die Marienstatue entfloh und kehrte an ihren Ursprungsort in die Höhle zurück.
Daraufhin schlossen die Bauern der Gegend mit der Maria einen Vertrag. Bleib Du bei uns, und wir bringen Dich jedes Jahr einmal zurück in die Höhle. So hebt sich in der Maria von Cuchumba der Widerspruch von Wildland und Kulturland, Wildnis und Bezähmung auf. Die Lösung des Widerspruchs bedeutet kosmische Harmonie und Gesundheit. Damit stellen die Marien das Zentrum des andinen Weltbildes dar.

An dieser Stelle muss noch zu Geistern wie jucas oder mohan und ihrem Donner ein Zusatz angebracht werden. Die Missionare wollten diese Herren der Wildnis verdammen und nannten sie Teufel oder Dämonen. Die Bauern übernahmen nur die Ausdrücke, nicht aber die Verdammung. Diese Gestalten können zwar wegen ihrer Kraft gefährlich werden, doch sie geben Wasser, Wind und Leben. Wer erlernt, mit der Wildnis in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten, wird zum Heiler. Nicht von ungefähr sieht man von der Cuchumbahöhle aus den Felsen der Teufelskanzel. Für die Bergbauern geht es nicht um den Widerspruch, sondern um seine Lösung.
Die Marien enthalten noch viele andere Sinnaufladungen. Da die Missionare Abbilder, in denen Maria auf der Schlange steht, mitbrachten, machten sie ein Angebot an das andine Denken. Für die Bewohner der südlichen Zentralkordillere und des oberen Magdalenatales bedeutet dies keineswegs, dass Maria der Schlange den Kopf zertritt. Nein, sie wird so zur lebensspendenden Wassermutter, die entweder in der Form einer schönen Frau oder als Schlange auftritt. Ein weiteres Angebot waren Darstellungen von Maria auf der Mondsichel. So war es leicht, sie als die Mondmutter zu verstehen.
Kein anderer Himmelskörper ist für die Bauern so wichtig wie der Mond.

S. 104)
Für das Kulturland selbst sucht man relativ flache und trockene Gebiete mit schwachem Gestein als Untergrund. Dort, wo man sich noch eine Wald-Feld-Rotation erlauben kann, sind die Ränder der Felder meist unregelmäßig. Dort, wo sich seit langer Zeit der Wechsel auf Nutzung und Bewuchs mit Buschwerk beschränkt, werden mit Hecken Parzellen abgetrennt. In der Ostkordillere sammelt man dazu Steine aus den Feldern und errichtet daraus lose geschichtete Mauern, auf denen dann wächst, was wachsen will.
In der Zentralkordillere pflanzt man lebende Hecken. Beides soll auch die sogenannten guandos, die Windgeister der Berge abhalten. Auch Diebe sollen durch Dornenbüsche, Kakteen und Wolfsmilchgewächse, die Allergien auslösen, abgewehrt werden. Innerhalb dieser Parzellen wird aber der Boden bei weitem nicht nur mit einer Pflanze bebaut. Vielfalt ist angesagt, um ein schnelles Ermüden der Erde zu verhindern. So baut man häufig in einem scheinbar regellosen Durcheinander an. Dabei weiß man sehr genau, welche Pflanzen Freunde sind. So liebt es der Mais, wenn sich eine Bohne an ihm rankt. Erschöpft sich der Boden, so nutzt man ihn noch einige Zeit als Weide. Langsam lässt man ihn dann mit Buschwerk zuwachsen. Hat sich nach Jahren der Boden erholt, brennt man das Buschwerk ab. Aber die Erde ist in ihrer Ruhezeit wieder wild geworden und muss erst gezähmt werden. Dazu bebaut man sie einige Zeit mit resistenten Knollenfrüchten wie Kartoffel oder Maniok, erst danach verträgt sie den Mais. Der Düngung steht der Bauer meist misstrauisch gegenüber, weil er dies gewissermaßen als unerlaubtes Doping der Erde betrachtet, das über kurz oder lang zu deren Kollaps führen wird.
Diese Art das Land zu bestellen, hilft wie gesagt, die Menschen und die Erde gesund zu erhalten. Landbestellung ist so für den andinen Bauern nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein medizinisch-religiöser Akt. In der Landnutzung wie in der Medizin prallen die Kulturen aufeinander. Für den Bauern ist eben die Landnutzung ein Teil seiner Medizin.
Wie ganz anders erscheinen dagegen die Felder der Großgrundbesitzer und der Bauern, die aus den Provinzen der Antiquenos stammen. Beide hassen die Wildnis und besingen Axt und Feuer, die sie vernichten. Sie neigen zur Monokultur. Selbst auf dem Luftbild kann man erkennen, ob in einer Region die indianisch-mestizische Tradition vorherrscht oder ob wir es mit Antiquenos oder Grundbesitzern westlicher Prägung zu tun haben.

S. 106)
Draußen auf dem Land leben die, die es bebauen. Ihre Häuser sind genauso Kulturgut wie ihre Art des Anbaus. Mag ein Europäer voreilig urteilen, die Häuser seien ärmlich, so entsprechen sie doch meist den Vorstellungen der Bauern.
Als ich jemanden suchte, der in unserem Haus bei Popayán wohnen sollte, um darauf aufzupassen, stellte sich sehr schnell heraus, dass die europäische Raumaufteilung ihrem Lebensgefühl zuwider lief. Zudem war ihnen der Ort nicht geheuer. Erst als ich an eine andere Stelle ein kleines Haus im Stil der Bauern stellte, fand ich jemanden, der bereit war dort zu wohnen.
Wie wichtig das Haus für das Wohlbefinden ist, sieht man bei Leuten aus Tolima, die in einer Stadt zu Wohlstand gekommen sind. Gern bauen sie sich in ihre Stadtwohnung die Innenseite eines Palmdaches, denn das gibt das Gefühl von Heimat.

S. 136 f.)
Auch dem Medizinmannwesen entkam ich nicht. Es gibt so viele Wege zum Meister im Umgang mit der Welt des Unkontrollierbaren. Jetzt erfuhr ich von einer neuen Variante, der Grabräuberei. Zwei Gruppen von Männern waren zu dem Zeitpunkt dabei, auf dem Gelände des Landgutes Gräber aus vorspanischer Zeit auszuheben. Sie ruhten sich unter einem Kiosk mit Palmdach aus, und da sie bemerkten, dass ich von den Geistern der Vorzeit schon einiges wusste, redeten sie mit mir, als wäre ich auch hier, um Grabbeigaben zu suchen. Langsam stellte sich die verschrieene Grabräuberei als eine schamanistische Tätigkeit dar, die fast unausweichlich dazu führt, den Weg ins Medizinmannwesen einzuschlagen. Wie bereits gesagt, kennt dieser Weg viele Varianten.
Häufig beginnt der Werdegang eines Medizinmannes mit der Grabräuberei, der sogenannten guaqueria. Diese Menschen suchen die Hinterlassenschaften der Vorzeit. Guacas sind gefährliche Orte. Sie werden beschützt von Schlangen, giftigen Fröschen und Ameisen. Blitze und selbst Sternschnuppen gehen auf sie nieder, und ihnen entströmt das mal aire, das schwerste Krankheiten verursachen kann. Der guaquero begibt sich also in eine Welt unwägbarer Gefahren. Seine Vorsichtsmaßnahmen ähneln denen von Fischern und Jägern. In den Tagen vor seiner Arbeit muss er Frauen meiden, um durch sie nicht geschwächt zu werden. Ihr Geruch würde zusätzlich die Geister der guacas wild machen. Bevor er sein Werk beginnt, verschließt er sich den Körper, damit in ihm bleibe, was drin bleiben muss und nichts reinkomme, was nicht rein darf. So wie man Jagdtiere nicht finden kann, sondern sie sich zeigen, muss sich auch eine guaca selbst schenken.

S. 139 f.)
Wer die Philosophie der andinen Bauern verstehen will, muss sich mit ihrer Sicht des Wassers befassen. Nicht umsonst bezeichnen sich z.B. die Leute in den Hängen des Vulkans Puracé als Leute der Wassermutter. Das Wasser hat in diesem Weltbild seine Heimat in einem Unterweltozean. Dort ruht es sich von seinem ständigen Lauf aus, um erholt aufs Neue seinen Weg aufzunehmen. In diesem Meer leben – unbehelligt von den Machenschaften der Menschen – die Urzeitwesen. Dort herrscht die vollkommene Wildnis, aus der alle Lebenskraft entspringt. Dieses Wasser der Tiefen ist auch die Heimstätte der Naturgeister, die auf der Erdoberfläche unberührte Regionen gegen die Einflüsse des Menschen verteidigen. Auf diese Art und Weise ist jedes Wildland engstens mit der Unterwelt verbunden. Nur dort ist das Wasser gewillt, an die Oberfläche zu treten, und seine Wege sind die Schlupflöcher der Geister. Schneeberge, steile Felsen, Klammen, Gebirgsseen, Sümpfe und Wälder fungieren so als Wasserspender und bevorzugte Aufenthaltsorte der Geister. Ihre Erscheinungsform kennt viele Varianten, aber immer werden sie durch starke Sexualität gekennzeichnet, in der sich ihre überragende Lebenskraft ausdrückt.

Der Bauer setzt Wasser auch immer mit Schlangen in Verbindung, die für ihn die Vitalität symbolisieren. Darin zeigt sich u.a., dass Lebenskraft auch immer unbändig wild und gefährlich ist. Je mehr Lebenskraft ein Lebewesen oder Gegenstand in sich konzentriert, desto mehr entzieht es sich der menschlichen Kontrolle. Für diese Wildheit hat man in jeder Region einen eigenen Ausdruck. Die Leute im Zentralmassiv nennen sie auca, die Paez ptans, aber meist spricht man von lo bravo oder lo hieloso. Das bedeutet das Wilde bzw. das Eisige.
Unter diesen Ausdrücken fasst der Bauer alles zusammen, was sich der menschlichen Kontrolle entzieht. Darunter fällt so unterschiedliches wie hohe Berge, Seen, Flüsse, Wasserfälle, das Meer, große Wälder, Erdbeben, Wetter, Wind, Gestirne, Unterwelt, Geburt, Pubertät, Sexualität, alle starken Emotionen von Liebe über Neid bis hin zu Hass und Trauer, Menstruation, Schwangerschaft, Krankheit, Streit, Krieg, Feste und der Tod.
All das Wilde und Unbezähmbare bringt die Gefahr von Krankheit und Tod, ist aber Grundbedingung für eine Erneuerung des Lebens. Die Lebenskraft wird meist calor (Hitze), espiritu (Geist) und im Süden des Landes guaira genannt. Guaira ist das Strömende, sei es nun Wasser, Wind oder Blut, und bedeutet so auch Kraft.
Das Wasser hat in dieser Ordnung einen ganz besonderen Platz inne. Es ist weder hart noch riecht oder schmeckt es. Dies macht aus dem Wasser das kälteste der Elemente. In seiner Bewegung ist Wasser aber unvergleichbar lebendig und stark und verkörpert so die Lebenskraft an sich. Diese Dialektik ist ein Grundprinzip des Denkens andiner Menschen. Dies schlägt sich auch im menschlichen Leben nieder. So verbraucht der, der im Übermaß mit dem Wilden zu tun hat, seine Lebenskraft, wer aber die Wildnis zu sehr meidet, wird von seiner eigenen inneren Lebenskraft überladen. Da aber auch diese wild ist, kommt er dadurch in gleicher Weise zu Schaden und verliert so seine Kraft. So gleichen sich in ihrem Effekt die Extreme von Hitze und Kälte.

S. 141)
Die meiste Lebenskraft zeigt sich immer dort, wo Heißes und Kaltes zusammentreffen, so etwa im Eis, das die Felder verbrennt, wie man sagt, oder an den Kratern der schneebedeckten Vulkane oder an Orten, wo heiße und kalte Quellen nahe zusammenliegen. [...]
Die Wassermutter hat, wenn sie sich den Menschen zeigt, zwei Erscheinungsformen. Entweder tritt sie als betörend schöne Frau von unwiderstehlicher Attraktivität auf, oder sie nimmt die Form einer Schlange an. Sie ist die Herrin des Wassers und all seines Lebens. Dies kann sie vor dem Menschen beschützen, sie kann es ihm aber auch schenken. Für die Bauern gibt es keine guten Fischer, sondern nur Männer, die die Sympathie der Wassermutter erworben haben. Glück beim Fischfang beinhaltet aber, wie jeder Umgang mit den Mächten der Wildnis, eine Gefahr. Die Wassermutter ist eine Frau und will mit dem Mann ihres Herzens zusammenleben. Über kurz oder lang wird sie den glücklichen Fischer zu sich in ihr Unterwasserschloss holen, aus dem sie ihn nicht mehr lebendig entlassen wird. Wer hintereinander mehrmals außerordentlichen Erfolg bei der Fischerei hatte, tut deshalb gut daran, für einige Zeit die Flüsse und Seen zu meiden. Die Gefahr kündigt sich häufig auch in hocherotischen Träumen an, in denen die Wassermutter dem Fischer erscheint.

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