June 9, 2010

LSD und sein Entdecker pt 2


Albert Hofmann – LSD und sein Entdecker
Ein Film von Basil Gelpke und Valentin Faesch pt 1

1960 an der renommierten Harvard University in Cambridge, USA. Ein Psychologieprofessor initiiert ein großes LSD-Forschungsprogramm. Hunderte von Studenten nehmen daran teil, und LSD wird zum Thema Nr. 1 unter ihnen. Der junge Professor ist Timothy Leary. Bei Sandoz bezieht er legal Delysid. 1963 bestellt er bei Albert Hofmann eine immense Menge Psilocybin (25 kg) und LSD (100 g) – genug für mehrere Millionen Behandlungen. Hofmann wird stutzig und verhindert die Lieferung. Kurz darauf wird Leary fristlos entlassen. Frei von den Zwängen der akademischen Forschung propagiert er den Massenkonsum von LSD. Sein Ziel: eine spirituelle Revolution in Amerika (flyer: "Psychedelic Celebration – Reincarnation of Jesus Christ"). Leary:

"Die Amerikaner sind völlig fixiert auf materiellen Besitz, auf Macht und Krieg. Es ist eine kranke Gesellschaft. Unser Ziel ist es, das geistige Bewusstsein der Amerikaner anzuheben. Wir werden versuchen, eine religiöse Renaissance zu initiieren."

LSD gerät über Nacht in die Schlagzeilen, weckt die Neugier der Öffentlichkeit. Da die Substanz für Fachleute relativ leicht herzustellen ist, wird sie plötzlich überall angeboten. Meist in Form einer auf Zucker oder Löschpapier applizierten Lösung. Mitte der 60er Jahre haben schon mehrere Millionen Amerikaner mindestens einmal die unkontrollierte hergestellte Schwarzmarktware eingenommen. Doch so einfach die Herstellung, so schwierig die richtige Dosierung. Für jeden Trip gilt es ein Zehntausendstel-Gramm abzumessen. Jeder offiziellen Kontrolle entzogen, sind Unfälle vorprogrammiert. LSD wird zum Genussmittel, schließlich zur Straßendroge. Hofmann:

"Gerade nach meinen ersten Erfahrungen hätte ich mir nie vorstellen können, dass LSD jemals auf die Straße gelangen würde. Es ist ja wirklich kein Genussmittel. Es ist eine Art Konfrontation mit seinem Unterbewusstsein: Unbewusste Inhalte dringen ins Bewusstsein. Es ist wie eine Art Tagtraum, und es können auch sehr unangenehme Inhalte sein, schreckliche, destruktive Inhalte – deshalb Himmel und Hölle, wie Huxley das bezeichnet hat. Man hat nach einem LSD-Erlebnis das Gefühl, man müsse es verarbeiten, man kann da nicht einfach drüber hinweggehen. Es ist etwas sehr ernsthaftes – kein Genussmittel. Für mich war es kein Genussmittel, sondern wie gesagt etwas, mit dem man sehr sehr vorsichtig umgehen muss. Und ich war dann sehr sehr erstaunt, als es zum Massenkonsumgut wurde – in den Vereinigten Staaten hat das ja alles angefangen.

San Francisco 1967. Die kalifornische Stadt ist die Hochburg der Hippies, der rebellischen Jugend. Eine neue Musik und die Drogen LSD und Marihuana sind ihre wichtigsten Attribute. Die Hippies verweigern sich dem American Way of Life, und das geben sie auch äußerlich zu erkennen. Ihre vom Krieg und der prosperierenden Nachkriegszeit geprägten Erzeuger sind zutiefst verunsichert. Konsum und Karriere, traditionelle Familienwerte und Patriotismus gelten den eigenen Kindern plötzlich nichts mehr. Sie verweigern nicht nur den Kriegsdienst in Vietnam, sondern praktizieren in Kommunen auch neue Formen des Zusammenlebens, wo sie dann womöglich dem Drogenkonsum und der freien Sexualität frönen. Eine Kulturrevolution nimmt ihren Anfang. Zumindest was die junge Generation betrifft, scheint sich Learys Vision einer spirituellen Revolution in Amerika langsam zu verwirklichen. Alfred Hofmanns unbeabsichtigte Entdeckung aus dem Jahre 1943 – schon ein Vierteljahrhundert alt – bestimmt das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Die Erfahrung anderer, ebenso realer Wirklichkeiten, die das LSD vermittelt, relativiert die traditionellen Werte. "Breaking through" – brecht aus, singen die Doors.

Eine psychedelische Kunst, psychedelische Grafik, ein psychedelisches Layout und Design entstehen – Versuche, das LSD-Erleben visuell umzusetzen. Einflüsse, die bis heute nachwirken. Die 68er Revolte zeichnet sich ab. Der Kapitalismus wird zum erklärten Gegner. Dem Krieg in Vietnam wird jede moralische Legitimation abgesprochen. Und der selbsternannte LSD-Prophet Timothy Leary fordert zum radikalen Bruch mit der Gesellschaft auf: "Alle kommen zu mir. Nicht weil ich so klug bin, sondern weil ich sage, turnt euch an, hört hinein und steigt aus."
Doch das aufgeschreckte Establishment, das seine Interessen massiv bedroht sieht, schlägt zurück. Die Politiker erkennen die subversive Rolle von Marihuana und LSD. Leary wird wegen des Besitzes einer kleinen Menge Marihuana zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Der US-Senat lädt Leary zur Anhörung vor, doch der kann das totale Verbot von LSD nicht verhindern. Das ist der Beginn der repressiven Drogenpolitik, die bis heute anhält. Hofmann:

"Ursprünglich war LSD nicht verboten. Es passte nicht in den Paragraph der Opiate, es passte nicht in den Paragraph der Stimulanzien, es war etwas neuartiges. Aber als dann eben einerseits diese politischen, sozialen Auswirkungen sich dermaßen breit machten und eben dann auch Unglücksfälle und Verbrechen im Zusammenhang mit LSD, Missbrauch von LSD zutage traten, war das dann ein Vorwand von der Gesundheitsbehörde und des Establishments, eben dieses drakonische Verbot auszusprechen. Das hat dann auch dazu geführt, dass die wissenschaftliche Untersuchung, d.h. auch die Anwendung von LSD in der Psychatrie, in der Medizin, auch in der Biologie alle abgebrochen wurden. Und dieser Zustand hält bis heute an."

Tatsächlich hat der Missbrauch von LSD auch dazu geführt, dass selbst Wissenschaftler, die sich seiner Erforschung verschrieben, in ein schiefes Licht gerieten, und auch für Sandoz ist LSD heute kein Thema mehr.
Herrling:

"Die eigentliche Erforschung des LSD-Moleküls selber und seine Wirkung auf das Nervengewebe, auf das Gehirn hat heutzutage eine Flaute erreicht. Man hat während vieler Jahre versucht, das Molekül auseinander zu nehmen, zu verstehen, wie es funktioniert, aber diese Flaute hat verschiedene Gründe. Wir wissen nämlich nicht, was man jetzt noch weiter damit machen könnte. Und weil dieses Molekül eben mit sehr vielen Systemen gleichzeitig interagiert, ist es das, was die Pharmakologen ein "dreckiges Werkzeug" nennen, und wir arbeiten lieber mit reinen, die nur mit einem System interagieren. Und natürlich hat diese Art von Forschung nach dem LSD auch sehr stark Auftrieb gewonnen und hat tatsächlich eine ganze Reihe von Substanzen hervorgebracht, die in der Depression eingesetzt werden, sogar in neurologischen Indikationen wie die Parkinsonsche Krankheit, bei Hormonveränderungen. Überall dort sind solche chemischen Systeme beteiligt und können auch günstig beeinflusst werden. Also kann man sagen, dass die Wirkung der Entdeckung des LSD für unsere neuropharmakologische Forschung von sehr hoher Bedeutung war."

Eine psychiatrische Praxis im schweizerischen Solothurn. Margrit Brodbeck, eine Berufsschullehrerin, ist in Behandlung bei Dr. Samuel Widmer. Der Psychiater ist im Besitz einer Ausnahmegenehmigung des schweizerischen Gesundheitsministeriums. In seinen Therapien darf er bewusstseinsverändernde Substanzen wie LSD einsetzen. Brodbeck:

"Eine Zeitlang war das für mich schon fast aussichtslos. Ich hab andere Therapien auch gemacht, und ich hatte immer das Gefühl, das etwas in mir nie angerührt wurde, dass etwas in mir unberührt blieb. Und das hab ich auf diesen Sitzungen mit Medikamenten gekonnt, ich konnte dann gehen."

Nach intensiver, oft jahrelanger Vorbereitung führt der Psychiater Gruppensitzungen durch, bei denen er seinen Patienten eigentlich gesetzlich verbotene Substanzen wie LSD und das ähnlich wirkende MDMA, auch unter dem Namen Ecstasy bekannt (keine Droge hat sich je so schnell so weit verbreitet), verabreicht. Widmer:

"Diese Art der Therapie ist heute praktisch überall auf der ganzen Welt verboten, obwohl die gesetzlichen Möglichkeiten immer noch bestehen. In der Schweiz kann man das im Moment machen, aber nur unter ganz schwierigen Bedingungen, mit komplizierten Bewilligungsverfahren, und man bleibt immer auch irgendwo suspekt. Wer das tut, ist irgendwo eben ein () – das bleibt so: Das hat vor allem politische und geschichtliche Gründe, dass diese Substanzen missbraucht wurden und dann in die Betäubungsmittellisten gesetzt wurden, wo sie eigentlich garnicht hingehören. Es hat aber auch tiefer liegende Gründe, also dass der bewusst seiende Mensch wahrnimmt, dass diese Substanzen sehr tiefschürfende Veränderungen bewirken könnten, und diese Veränderungen machen eben Angst."

Die Anwendung der Drogen LSD und MDMA soll helfen, verdrängte Erlebnisse ins Bewusstsein zu rufen, um diese dann in anschließenden Gesprächen verarbeiten zu können. Unter Widmers Patienten sind alle Bevölkerungsschichten vertreten. Es sind ganz normale Bürger, die ganz normalen Berufen nachgehen. Menschen aus der Schweizer Provinz.
Der Baseler Psychiater Juraj Styk arbeitet seit Anfang der 60er Jahre mit LSD. Nachdem er diese Arbeit wegen des totalen Verbots für lange Zeit unterbrechen musste, kann er seit 1985 wieder legal LSD einsetzen. Dr. med. Styk:

"Die tiefe Erfahrung in einem guten Setting, d.h. in einer therapeutischen Umgebung, die stützend und nährend ist, diese Umgebung ermöglicht dem Patienten ganz tief einzutauchen in seine Ängste und alle konflikthaften Situationen, und das ist eine ganz wichtige Erfahrung für ihn, die wir dann später in weitere Sitzungen mit ihm integrieren. Das ist das Wesentliche an der therapeutischen Nutzung von LSD."

Was sind die Gefahren dabei?

"Die Gefahren bei der LSD-Arbeit sind, wie ich gesagt habe, in einer guten Umgebung kaum vorhanden. LSD kann aber zum Horror werden, wenn man es unter schlechten Umständen, unsorgfältig vorbereitet, mit größten Unsicherheiten, wie der Stoff ist, also in einem illegalen Klima nimmt. Unter therapeutischer Begleitung, wenn der Betreffende gut informiert und motiviert ist und sich in einer guten Grundstimmung befindet, bestehen keine Gefahren. Weder gesundheitliche noch seelische."

Besuch eines ehemaligen Patienten. Udo Kinzel litt unter schweren Depressionen, fühlte sich rastlos und überfordert. Jahrelang unterzog er sich verschiedenen Therapien – ohne Erfolg. Erst die psycholytische Behandlung habe ihm wirklich geholfen:

"Mit den psycholytischen Substanzen geht es schonungslos an das, was wirklich da ist. An die schönen wie auch an die Schattenseiten, die ich an mir kennengelernt hab. Und ich bin durch die Schattenseiten durch, durch die Angst, durch die Verzweiflung, durch das Infragestellen, durch das Leiden vor allen Dingen. Ich hab das Leiden bei mir und auf dieser Welt nicht mehr ertragen, und ich hab, indem ich auch immer wieder durch das Leiden durch bin, fast verzweifelt daran bin, während dieser Erfahrung gelernt, das Leiden auch als Teil dieser Welt einfach zu akzeptieren. Das hat mir mehr Selbstwertgefühl gebracht, hat die Energie in mir anders fließen lassen – das spür ich. Von der Ausgeglichenheit her, weniger körperliche Verspannungen, weniger Kopfweh und andere Sachen. Das ist eine fast unglaublich andere Sache für mich geworden. So gibt's viele Bereiche, die angeschnitten wurden, die schwer erklärbar sind."

Albert Hofmann fühlt sich seinem Sorgenkind noch immer verpflichtet. Er glaubt, dass aus LSD – richtig angewendet – ein Wunderkind hätte werden können. Die emotionalisierte Kontroverse habe zu vielen Missverständnissen geführt. So schreibt er noch immer Vorträge, nimmt Einladungen zu wissenschaftlichen Symposien an, die ihn aus der ganzen Welt erreichen. Er möchte die Missverständnisse klären helfen.
El Escorial – die alte Residenzstadt der spanischen Könige in der Nähe von Madrid. Vor der imposanten Kulisse des Klosterschlosses von Phillip II. sammelt sich Albert Hofmann vor einem Symposium, zu dem ihn die Universität Madrid eingeladen hat. Hier in Spanien ist er bekannter als in seiner Schweizer Heimat. Hier ist das Interesse an seinem Werk besonders groß. Hofmann:

"Ich habe ja versucht zu zeigen, dass LSD in den Rahmen dieser Stoffe gehört, die seit Jahrtausenden in allen Kulturen genommen und gebraucht wurden, aber immer in den Händen einer Priesterschaft, immer im zeremoniellen Rahmen genommen wurden. Und so ist LSD auch gedacht. Auf keinen Fall Massenkonsum. LSD kann im besten Fall in gewissen Fällen dem einzelnen Menschen helfen. Und es ist ein Medikament! Medikamente müssen sie doch nicht immer nehmen. Medikamente nimmt man, wenn man krank ist und wenn man das nötig hat. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: LSD ist ein Medikament. Es ist ein Hilfsmittel. Ich habe noch nie jemandem gesagt, er soll LSD nehmen."

Hoffmann hält das Verbot von Drogen für kontraproduktiv. Die Illegalität begünstige die Mafia, verhindere sachliche Informationen. Darin weiß er sich einig mit seinem Freund, dem Madrider Philosophie-Professor und Drogenforscher Antonio Escohotado:

"Drogen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Wir müssen uns nur mit ihnen vertraut machen und sie vernünftig anwenden lernen. Sonst bekommen wir die Probleme, die wir heute damit haben. Gleich hier um die Ecke könnten wir Heroin oder Kokain kaufen. Das wäre einfacher als Valium zu bekommen, denn für Valium müssen wir mit einem Rezept zur Apotheke ... Das ist eine Ironie. Wann immer wir entscheiden eine Droge zu verbieten, führt das nur dazu, dass sie jederzeit und fast überall zu kriegen ist."

War LSD einmal der Inbegriff des Drogenmissbrauchs schlechthin, so sind heute – und das ist die Ironie der Geschichte – längst harte, abhängig machende Gifte wie Heroin und Kokain an seine Stelle getreten. Und der Drogenmissbrauch hat ein Ausmaß angenommen, das man sich in den 60er Jahren nicht hätte träumen lassen.
Warum aber ist die Karriere von LSD auch in der Drogenszene so plötzlich zuende gegangen? Widmer:

"Eines der größten menschlichen Probleme ist, dass der Mensch ein riesiges Bedürfnis hat, unangenehmen Dingen aus dem Weg zu gehen und angenehme Dinge fortzusetzen. Aus dieser Tendenz heraus, denke ich, sind Drogen wie Schlafmittel, die ganzen Psychopharmaka oder eben das Heroin – die helfen, etwas zu verdrängen, einen angenehmen Zustand in sich zu erzeugen, der vielleicht auf lange Sicht dann zwar unangenehme Folgen hat, aber kurzfristig als angenehm erlebt wird – deshalb sind diese Stoffe sehr populär. Stoffe dagegen, die helfen, der unangenehmen Wahrheit ins Auge zu sehen, wie wir wirklich sind, wie unsere Welt wirklich ist, nicht sehr beliebt sind."

Albert Hofmann bedauert die Entwicklung, die die Geschichte von LSD im letzten halben Jahrhundert genommen hat. Für ihn sind Missbrauch und Missverständnisse Schuld daran, dass aus seiner Entdeckung kein heilbringendes Medikament für die Allgemeinheit geworden ist. So ist LSD sein Sorgenkind geblieben.

Albert Hofmann: "Ich bin überzeugt, dass LSD den Platz finden wird, den es in der menschlichen Kultur braucht."

LSD und sein Entdecker pt 1


Albert Hofmann – LSD und sein Entdecker
Ein Film von Basil Gelpke und Valentin Faesch pt 2
Albert Hofmann:

"Oft wurde gesagt, LSD sei eine Zufallsentdeckung – das ist nur teilweise richtig, denn LSD, die Abkürzung für Lysergsäurediethylamid, wurde 1943 planmäßig hergestellt mit der Absicht, ein Kreislaufstimulanz, ein Analeptikum zu gewinnen. Der Zufall kam erst ins Spiel, als ich bei der Synthese unabsichtlich mit der Substanz in Berührung kam und dabei ihre außerordentlichen psychischen Wirkungen entdeckte. Gesucht hatte ich ein Kreislaufstimulanz, gefunden aber ein Psychostimulanz von bisher nie gekannter Wirkung."

Albert Hofmann, der Entdecker von LSD ist promovierter Chemiker, dreifacher Ehrendoktor der Chemie und einer der bedeutendsten Naturstoffchemiker unseres Jahrhunderts.
1943. Der Zweite Weltkrieg hat weite Teile Europas verwüstet. Städte und Fabriken sind zerstört, Menschen auf der Flucht. Die neutrale Schweiz und mit ihr die Grenzstadt Basel bleiben vom Krieg verschont. Albert Hofmann ist Offizier der Schweizer Armee, verbringt die eine Hälfte seiner Zeit im Militärdienst, die andere im Labor. Trotz des Krieges gehen die Forschungsarbeiten weiter. [...]
Am 16. April 1943 gerät Hofmann während der Arbeit unvermittelt in einen merkwürdigen Zustand. Damals schrieb er diesen Bericht an seinen Chef:

"Vergangenen Freitag, dem 16. April, musste ich mitten am Nachmittag meine Arbeit im Laboratorium unterbrechen und mich nach Hause in Pflege begeben, da ich von einer merkwürdigen Unruhe, verbunden mit einem leichten Schwindelgefühl, befallen wurde. Zuhause legte ich mich nieder und versank in einen nicht unangenehmen, rauschartigen Zustand, der sich durch eine äußerst angeregte Phantasie kennzeichnete. Im Dämmerzustand bei geschlossenen Augen – das Tageslicht empfand ich als unangenehm grell – drangen ununterbrochen phantastische Bilder von außerordentlicher Plastizität und mit intensivem kaleidoskopartigen Faltenspiel auf mich ein. Nach etwa zwei Stunden verflüchtigte sich dieser Zustand. Anschließend machte ich mit meiner Frau einen kleinen Spaziergang, wonach ich mich wieder vollkommen frisch und normal fühlte."

In seinen Laboraufzeichnungen äußert Hofmann gleich den Verdacht, dass er während der Arbeit unabsichtlich mit einer Substanz in Berührung gekommen sei: mit Lysergsäurediethylamid – also LSD. Er entschließt sich, der Sache auf den Grund zu gehen.
Hofmann:

"Drei Tage später, am 19. April 1943, machte ich einen Selbstversuch. Ich begann mit der kleinstmöglichen noch aktiven Menge, einem Viertel-Milligramm. Später stellte sich heraus, dass diese Dosis bereits das Fünffache der normal wirksamen Dosis gewesen war. Es begann damit, dass sich die Umgebung veränderte. Alles schien wie belebt. Auch die toten Gegenstände. Ich hatte auch innerlich ein anderes Selbstgefühl, ein anderes Körpergefühl. Die Sinnesempfindungen waren stimuliert, die Farben schienen grell, die Töne intensiv – das ganze Erleben war verändert. Die Sache begann so fremdartig zu werden, dass ich mich entschloss nach Hause zu gehen. Ich bat meine Laborassistentin mich nach Hause zu begleiten. Wir fuhren mit dem Velo dann eine Strecke von etwa sechs Kilometern, und unterwegs hatte ich das Gefühl ... es war eine ganz merkwürdige Störung des Zeiterlebens. Zuhause angelangt, war der Zustand schon so, dass ich vollkommen von der Umwelt und von mir selbst entfremdet war."

Stunden später kommt Hofmann dann wieder langsam aus seiner unheimlich fremdartigen Welt zurück in die vertraute Alltagswirklichkeit. Neu war eine Substanz von derartiger Wirksamkeit. LSD – hier seine Kristallisation – greift in die höchsten Regelzentren des menschlichen Bewusstseins ein. Ein einziges Gramm reicht für 10.000 Trips.
LSD ist ein chemisch nur leicht modifizierter Wirkstoff aus einem auf Roggen und Weizen wuchernden Pilz-Parasiten, dem sogenannten Mutterkorn.
Hofmann:

"Mutterkorn ist das Produkt eines Pilzes, der auf Getreidearten und auch auf Wildgräsern wuchert. Die vom Pilz befallenen Ähren entwickeln dann anstelle der hellen Körner das dunkle Mutterkorn. Mutterkorn wurde schon seit dem Altertum von den Hebammen verwendet, um die Geburt zu beschleunigen und Nachgeburtsblutungen zu stillen. Diese Wirkungen haben natürlich die pharmazeutischen Chemiker dazu veranlasst, die wirksamen Prinzipien zu isolieren und in reiner Form herzustellen, um daraus Medikamente machen zu können."

Vor der Entdeckung von LSD war es Hofmann schon gelungen, aus dem Mutterkorn drei, dem LSD chemisch nah verwandte Medikamente zu entwickeln, die bis heute Standardpräparate geblieben sind. Ein Medikament für die Geburtshilfe, ein kreislauf- und blutdruckstabilisierendes Mittel und ein Geriatrikum. Sie alle werden zu Bestsellern des Konzerns und tragen zum rasanten Wachstum der Firma entscheidend bei. Sandoz erzielt aufgrund von Hofmanns Forschungsarbeit Milliarden-Umsätze.
Während die moderne Medizin dem Mutterkorn wichtige Medikamente verdankt, sorgte der giftige Kornparasit im Mittelalter und vereinzelt noch bis in unser Jahrhundert für Tod und Verderbnis. Mutterkornverseuchtes Mehl wurde zu Brot verarbeitet. Die Folgen waren verheerend. Es kam zu Epidemien, denen Zehntausende von Menschen zum Opfer fielen. Die unerwartete Entdeckung von LSD sorgt nach Ende des Krieges für internationales Aufsehen in der Wissenschaft und macht Hofmann in Fachkreisen weltbekannt.

Paul Herrling – Forschungsleiter Pharma: "Zunächst war es sicher so, dass die Entdeckung der bewusstseinsverändernden Eigenschaften von LSD die Aufmerksamkeit des Forschungsestablishments in Nordamerika und Europa sehr stark auf solche bewusstseinsverändernden Drogen gelenkt hat. Das wäre wahrscheinlich in der südamerikanischen Kultur viel weniger aufsehenerregend gewesen, weil die ja solche Drogen schon seit Jahrhunderten in ihren Ritualen brauchen."

In Mexiko findet bis heute ein Kaktus als sakrale Droge bei den Huichol-Indianern Verwendung. Seine dem LSD sehr ähnlichen halluzinogenen Eigenschaften verdankt der Peyotl-Kaktus einem seiner Inhaltsstoffe, dem Mescalin. Diese rituellen Zeremonien stehen im Mittelpunkt des religiösen Weltbildes dieser Indianer.
Neu ist das Wirkungsbild von LSD also nur für den westlichen Kulturkreis. 1947 wird LSD an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich zum ersten Mal breit auf seine Einsatzmöglichkeiten in der Psychiatrie hin getestet. Die Ergebnisse sind ermutigend. Aufgrund dieser Resultate entschließt sich Sandoz 1949 Forschern und Ärzten LSD unter der Bezeichnung Delysid als Versuchspräparat zur Verfügung zu stellen. Im Begleitprospekt zu Delysid werden folgende Eigenschaften genannt: "Delysid erzeugt vorübergehende Affektstörungen, Halluzinationen, Depersonalisationserscheinungen, Bewusstwerden verdrängter Erlebnisse." Als Indikationen werden genannt: "Zur seelischen Auflockerung bei analytischer Psychotherapie, besonders bei Angst- und Zwangneurosen. Delysid vermittelt dem Arzt im Selbstversuch einen Einblick in die Ideenwelt des Geisteskranken."

Zu Beginn der 50er Jahre beginnt LSD erstmals das Interesse der Medien zu erregen. Vor den Kameras der BBC kommt es zu einem Selbstversuch: Test Subject) "Ich fühle mich gut und gesund wie immer, und ich nehme die Droge jetzt."
Eineinhalb Stunden später: Research Scientist) "Können Sie uns eine besondere Farbe beschreiben?"
TS) "Die Farben da vor uns, diese Farbe – wie soll ich sagen – verdammt, mein Wortschatz reicht nicht aus dafür."
RS) "Sprechen Sie vielleicht von diesem rötlichen Vorhang?"
TS) "Ja, und er hat wirklich verrückte Ornamente. Und das Licht – Entschuldigung, aber ich kann es nicht wirklich beschreiben."
RS) "Sind Sie überrascht, wenn ich diesen Vorhang eher schäbig finde?"
TS) "Entschuldigung, aber ich meinte etwas anderes damit."
RS) "Was meinen Sie in dieser Situation, wessen Urteil halten Sie denn für das richtigere?"
TS) "Jetzt stellen Sie mir eine Alles-Oder-Nichts-Frage. Ob ich aufgrund der Drogenwirkung den Vorhang eher so sehe, wie er wirklich ist, oder ob ich unter der Drogenwirkung Dinge sehe, die nicht so sind – faszinierend. Tja, alles was ich dazu sagen kann, ist, das ist eine Alles-Oder-Nichts-Frage."
Einige Zeit später: TS) "Ich reise jetzt von einer Zeit in eine andere und wieder zurück. Es ist mir nicht genauso bewusst, ich weiß aber, dass ich mich auch im Raum bewege. Aber ich bin mir extrem bewusst, dass ich mich in der Zeit bewege. Die Dinge haben keine Abfolge, und es gibt keine absolute Zeit, keinen absoluten Raum. Das sind nur Formen, die wir auf die Außenwelt projizieren."

Zu dieser Zeit veröffentlicht der weltbekannte britische Schriftsteller Aldous Huxley seine Erfahrungen mit Mescalin und LSD unter dem Titel "Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle." In diesen Drogen sieht er einen Schlüssel, um neue Welten des Bewusstseins zu erschließen.
Q) "In Ihrem Buch über Mescalin beschreiben Sie die unschätzbare Erfahrung, ausgelöst durch Drogen. Profitieren Schriftsteller von so etwas?"
Huxley) "Am meisten profitieren würden Professoren! Für fast jeden, der glaubt, die Welt genau zu kennen, der fixe Ideen und ein klar festgefügtes Weltbild besitzt. Für den wären diese Drogen sehr gut, um zu erkennen, dass die Welt, die er sich konstruiert hat, in keiner Weise die einzige Welt ist. Dass es außergewöhnliche, völlig andere Welten gibt, die wir – und das ist eine Gnade – erfahren können."
Huxleys Roman Eiland schildert eine utopische Gesellschaft, deren Weltbild von Einweihungsriten bestimmt wird. Dabei kommt ein magischer Pilz zur Anwendung. Es ist Psilocybe, ein Pilz, der wie der Mescalin-Kaktus schon seit Jahrtausenden von mexikanischen Indianern verwendet wird.

Mitte der 50er Jahre entdeckt der Pilzforscher Gordon Wasson, dass diese Zeremonien bis heute im abgelegenen Hochland Südmexikos praktiziert werden. Er bringt die Pilze zur Untersuchung in Albert Hofmanns Labor.
Hofmann:

"Es war ein fast unglaubliches Erlebnis oder ein – wie soll ich sagen – Zufall, dass diese mexikanischen Zauberdrogen zur Untersuchung in mein Laboratorium kamen. Es war das LSD, das diese Stoffe in mein Labor gezogen hat. Als gewisse mexikanische Zauberdrogen – es waren die heiligen Pilze der Teonanacatl, als die Gruppe von amerikanischen Ethnologen Mitte der 50er Jahre entdeckt wurde – wurden diese Pilze (Teonanacatl means the "Body of God" to the indigenous of Oaxaca Mexico, the psilocybin mushroom) wissenschaftlich untersucht. Man war aber nicht in der Lage, die Wirkstoffe zu identifizieren, man kam zu keinem Resultat. Und da hat sich der Botaniker erinnert, dass in Basel eben ein Stoff, LSD, entdeckt und untersucht wurde, der dieselben psychischen Wirkungen hat wie diese mexikanischen Pilze. Und er fragte uns, ob wir interessiert wären, diese Untersuchungen durchzuführen. So kamen die Pilze in mein Laboratorium, und wir waren dann erstaunt: Wir konnten relativ schnell diesen Wirkstoff isolieren und identifizieren, weil wir die Erfahrungen mit LSD hatten. Und dann stellte sich heraus, und das war auch wieder ein großer Zufall, dass sie strukturell-chemisch nah verwandt sind mit LSD."

(Ab 1607 versuchten die Jesuiten und Franziskaner, die Tarahumara zu bekehren. Einer der ersten Jesuiten dort versuchte sie mit Gewalt zu missionieren, worauf sie sich bewaffnet zur Wehr setzten. Man sagt von ihnen, dass sie wahrscheinlich die einzige Gruppe von Indigenas sind, die nie unterworfen wurde und sich nie mit anderen Kulturen vermischt hat. Auch die nordwestlich und nordöstlich lebenden Apachen überfielen ihre Siedlungen ab Mitte des 17. Jahrhunderts und bekämpften sie erbittert. Die Tarahumara stellten daraufhin den Spaniern und Mexikanern in den ständigen Abwehrkämpfen an der Nordgrenze gegen die Apachen stets furchtlose und ausdauernde Kämpfer, die es zudem zu Fuß durchaus mit den laufstarken Apachen-Kriegern aufnehmen konnten.)

Fasziniert von dieser Entdeckung reist Hofmann 1962 selbst nach Mexiko. Auf den Spuren der Azteken, die den Psilocybe-Pilz schon vor Jahrtausenden rituell gebrauchten, reist er mit Gordon Wasson zusammen durch unwegsames Gelände zur Zauberheilerin Maria Sabina, die ihn an einer Pilzzeremonie teilnehmen lässt. Die Indianerin Maria Sabina ist eine Curandera, eine Heilpriesterin. Der Pilz bringt sie in Kontakt mit ihren Göttern, lässt sie in die Zukunft sehen und die Ursachen von Krankheiten erkennen.
Hofmann:

"Weil es nicht die Zeit war, in der die Pilze erhältlich waren, konnte ich ihr von meinem synthetischen Psilocybin in Form von Pillen diesen Stoff verabreichen. Sie war anfangs skeptisch, aber die ganze Zeremonie ist dann zu ihrer vollen Befriedigung verlaufen. Es war sozusagen ein Test an kompetentester Stelle, dass mein synthetisches Psilocybin identisch war mit dem natürlichen Psilocybin, mit dem Inhaltsstoff der Pilze.
[...] Also mit anderen Worten: Es zeigte sich, dass LSD, das man früher eigentlich als Laborprodukt betrachtet hatte, durch eine zufällige Entdeckung in die Gruppe der mexikanischen sakralen Drogen gehört. Was seinen Wirkungsgrad anbelangt wie seine chemische Struktur."

Viele Jahr werden Hofmann und Gordon Wasson untersuchen, ob eine LSD-ähnliche Substanz gewonnen aus dem Mutterkorn im Altertum auch in Europa in einem mystisch-religiösem Rahmen Verwendung fand. Von 1.500 vor bis 300 n.Chr., fast 2.000 Jahre lang, fanden einmal jährlich im griechischen Eleusis Einweihungszeremonien statt. Die geheimnisvollen eleusinischen Mysterien gelten als wichtigster Mysterienkult des Altertums. Hofmann und Wasson kommen zu dem Schluss, bei den Riten in Eleusis fand mit größter Wahrscheinlichkeit eine halluzinogene Droge Verwendung, die aus einem Mutterkorn-Pilz gewonnen wurde.
Hofmann:

"Ich sehe die sinnvolle Anwendung in unserer Gesellschaft sicher vorläufig auf die Anwendung im psychiatrischen Rahmen beschränkt. Wir haben in unserer Gesellschaft nicht die Strukturen, die Einrichtungen, in denen solche Art Psychodrogen sinnvoll frei eingesetzt werden könnten. Wenn man bedenkt, wie in früheren Zeiten solche Stoffe eben in einem ganz besonderen Rahmen eingesetzt wurden – ich denke an die eleusinischen Mysterien, wo ziemlich sicher Psychedelika ("Fantastika") angewendet wurden – solche Institutionen fehlen bei uns."

June 8, 2010

Im Gegenteil, er gewinnt an Macht


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten

Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 1, pt 2, pt 3, pt 4
S. 142)
Die Oberfläche war in ständiger Gefahr, erneut von den Wassern verschlungen zu werden. Diese Gefahr ging von gigantischen Schlangen aus, die Seen und Flüsse bewohnten. Bisweilen stiegen sie aus den Gewässern, da sie selbst aber das Wasser waren, schwoll damit der Wasserspiegel an, bis er über die Ufer trat. Die Gewässer vereinigten sich und überschwemmten so die ganze Erde.
Erst Kulturheroen verstanden diese Gefahr zu bannen, indem sie die Schlangen beschworen und sie in felsige Grate verwandelten. So ist auch zu verstehen, wieso für die Bauern Gewässer und Berge wesensgleich sind und von entsprechenden Geistwesen bewohnt werden. In Tolima drückt sich dieser Zusammenhang selbst in den Ortsnamen aus. Viele Berge, Flüsse und Seen enden gleichermaßen auf die Silben arco, irco, erco oder urco, die bedeuten, dass dieser Platz besonders eng mit der Unterwelt verbunden ist.
In Tolima treffen wir auch auf das männliche Gegenstück der mohana, den mohan oder poira. Er wird als behaarter Mann mit besonders großen Genitalien beschrieben. Auch er ist Herr des Wasserlebens. Zu seinen wichtigsten Aktivitäten gehört es, Frauen nachzustellen, denen er in erotischen Träumen erscheint. Er bevorzugt junge, hübsche Mädchen mit langem schwarzen Haar. Vom mohan verfolgte Frauen streifen untertags verwirrt durch die Gegend. Wenn sie nicht rechtzeitig von einem Medizinmann behandelt werden, werden sie bei einem Strudel ins Wasser springen, um sich mit ihrem Geliebten vereinigen zu können, denn unter den Strudeln hat mohan seinen Unterwasserpalast.
Die Einstellung der Frauen zu diesem Wesen ist zweischneidig. Zum einen ist der Ruf des mohan ein Beweis für ihre weiblichen Reize, zum anderen sind sie sich der tödlichen Gefahr bewusst. Mindestens einmal im Leben vom mohan gerufen worden zu sein, gehört zur Rolle der Frau in Tolima. Geschlechtsverkehr von früher Jugend an mindert die Gefahr fataler Folgen. Dadurch wird die Hitze und Kraft der Frauen gesenkt, und sie sind damit eine weniger rentable Beute für den mohan, denn der will auf diesem Wege die Lebenskraft zurückgewinnen, die er in Form von Fischen den Menschen schenkt.
Aber es sind nicht die jungen Frauen, die den engsten Bezug zum mohan pflegen, sondern die Medizinmänner. Sie sind die großen Meister der Heilkunst, und um mohan zu ähneln, lassen sich manche Medizinmänner das Haar lang wachsen.

S. 143)
Der mohan lässt sich auch auf den Höhen der Gebirge wiederfinden. In der Ostkordillere lebt er in Bergseen, Flüssen und in Bergen, die reich an Quellen sind. Auch die Gletscher gehören zu seinem Reich. So ist das Unterste mit dem Obersten verbunden. Der Unterweltsgeist residiert auch auf den Gipfeln, und Schneeberge sind die Beschützer des Fischreichtums der Flüsse, die in ihnen entspringen.
Im Zentralmassiv und in der Zentralkordillere wird der mohan der Berge jucas genannt und ist erklärtermaßen Herr der Wildtiere und Wildpflanzen. Auch in den Höhen der Berge haben diese Geister ihre weibliche Gefährtin. Sie heißt in der Ostkordillere mancanita, im Norden montuma und im Zentralmassiv puma. Beschrieben wird sie als Frau mit sehr großen Brüsten, die die Wanderer verführt, die sich ins Hochgebirge vorwagen. Wenn sie aber dieser Verführung erliegen, zeigt sie ihren wahren Charakter und verwandelt sich in eine puma, die ihrem Liebhaber schnell den Garaus macht. Auch diese Frauen spielen eine wichtige Rolle im Kreislauf des Wassers. Das milchige, trübe Hochwasser wird als Milch aus den Brüsten der puma verstanden. Von den Höhen der Berge, den Seen und den Felsen strömt das Wasser ab, bis es wieder seine Ruhe im Urozean unter der Erde oder in den Meeren findet.

S. 144 ff.)
Es ist zur Mode geworden, Indianer zu Bewahrern des Gleichgewichts zu erklären, und die Welt der Nordanden gehört zu Indioamerika. Wer sich wirklich mit dieser Kultur auseinandergesetzt hat, weiß, dass der Akzeptanz des Ungleichgewichts und sein bewusstes Herbeiführen ein ebenso hoher Stellenwert zukommt. Für die Landbevölkerung Indioamerikas gehört Unordnung zur Ordnung des Kosmos. Sie bringt die Erneuerung der Lebenskraft, die in den Phasen der Harmonie wieder verbraucht wird.
Um diese Philosophie zu begreifen, müssen wir neben dem ständigen Fluss der Lebenskraft guiara das Prinzip von der batida de la tierra, vom Durchwühlen und Umkippen der Welt betrachten. Am ausführlichsten haben mir davon die bereits mehrfach erwähnten Coyaima berichtet. Wir haben bereits gehört, dass für sich auch die trockene Erde mit ihren Bergen dem Urozean entstammt. Seither besteht der Gegensatz zwischen dem Reich der Wildnis in der Unterwelt und der Oberwelt, in der der Wille des Menschen viele Orte prägt. Goldene Weltsäulen stützen die Erde, damit sie nicht im Urmeer versinkt. Somit ist der Jetzt-Zustand einigermaßen abgesichert. Doch die gegenwärtigen Verhältnisse sind nicht für ewig. Die Schwäche dieses Gebäudes zeigt sich bei jedem Erdbeben. Die Unterwelt zeigt in diesen Momenten ihre Nähe und Kraft. Der Stoff der Vorzeit, das Wasser, setzt dabei dazu an, sein verlorenes Terrain wieder zu erobern. So erzählt man, dass wenn die Erde bebt, sich alle Bäche und Flüsse innerhalb kürzester Zeit mit wahren Wasserfluten füllen. Der Status quo der Erde steht in großer Gefahr. [...]

Es gehört mit zur Philosophie der Bauern, dass der, der sich dem Lauf der Dinge widersetzt, verliert, und nur der gewinnt, der geduldig warten kann, bis die Umstände seine Vorhaben begünstigen. Dabei führen häufig Katastrophen die Gunst der Geschehnisse herbei. Wer allerdings große Desaster vermeiden will, muss häufig kleinere verwinden. Diese Gedanke prägt auch die Personen und die Gesellschaft. [...]
Auch die Gesellschaft braucht die Reinigung in chaotischen Zeiten. Dies ist der Grund, weshalb bei den Dorffesten alle Regeln gesprengt werden müssen. Je wilder das Fest war, desto größer die Abkühlung. Solche Veranstaltungen müssen auch ihre Gefahr in sich bergen, und vielerorts ist ein Fest ohne Tote und Verwundete eben kein Fest.
Ist das Konzept von den unausweichlichen und auch notwendigen Phasen der Unordnung und Zerstörung auch der Grund für die allgegenwärtige Gewalt, die besonders Kolumbien so prägt? Friedfertig waren die Menschen dieser Weltenteile wohl noch nie. Interessant sind Anmerkungen von spanischen Chronisten zu den Tairona im Norden des Landes. Bevor diese von einer Pockenepidemie dahingerafft wurden, waren sie den Spaniern über Jahrzehnte hin militärisch durchaus ebenbürtige Gegner.
Erschöpft berichten die zurückgeschlagenen Eindringlinge, dass unter den Tairona selbst der dürrste und älteste glaube, der Krieg sei ein Fest. Von Bolivien bis Mexiko wird von dem Ausspruch berichtet, dass die Revolution wie ein Fest sei. Damit wäre politische Gewalt in Lateinamerika das Resultat einer tiefverwurzelten, alles umgreifenden Philosophie, auf der die gesamte Kultur dieser Weltgegend aufbaut.
Bevor jetzt aber jemand die Nase rümpft und glaubt, diese Leute seien wohl doch in irgend einer Weise Wilde, dem sei kurz zu bedenken gegeben, dass Lateinamerika seit 500 Jahren keine Megakatastrophe erlebt hat, die mit einem der Weltkriege vergleichbar wäre, die in diesem Jahrhundert schon zweimal Europa vernichtet haben.

S. 148 f.)
Einige Kollegen, die es gewagt haben, tief in die Gedankenwelt der Andenbauern und ihrer Verwandten in Amazonien vorzudringen, wurden alle in grausame Lebenskrisen gestoßen. Sie haben aufgehört Wissenschaftler zu sein und sind auf dem Weg in ein neues Leben. Wissenschaftliches Zerpflücken scheitert wohl kaum bei einem Forschungsgegenstand so augenscheinlich, wie bei den Tiefen einer schriftlosen Kultur.
Das Fehlen von selbstverfertigten Schriften der Bauernkultur ist auch ihr großer Vorteil. Bücher der Weisheit sind zwangsläufig eine Lüge, denn die Welt ist viel zu vielfältig, um sich in einem Buch darstellen zu lassen.


S. 150 f.)
In Popayán und seinem Umland hat man für diese zwei kulturellen Welten Begriffe entwickelt, die sich auf die jeweilige Kleidung der Träger der betreffenden Kultur beziehen. So nennt man die nach Europa und Nordamerika ausgerichtete Führungsschicht in Popayán und in den größeren Orten los de corvata oder los corvatudos, während man die von der indianischen Tradition geprägte Bevölkerung los de ruana nennt. Die körperliche Arbeit wie auch der Militärdienst in unteren Dienstgraden wird den enruanados überlassen. Als Synonym für diese Begriffe dient auch campesino, und obwohl man bestrebt ist, das Indianische totzuschweigen, wird für alle los de ruana, wenn sie von weißer bis tiefbrauner Hautfarbe sind, die abwertende Bezeichnung indio verwendet. Menschen afrikanischer Abstammung werden, ganz wie sie leben, immer los negros genannt. [...]
Die dauernden Anordnungen und Belehrungen sowie das ständige Diskriminieren und Lächerlichmachen der Kultur der de ruana-Menschen hat bei diesen ihrerseits eine Barriere aufgebaut, die ein de corvata-Mensch kaum durchbrechen kann und die er bezeichnenderweise la malicia indigena (die indianische Verschlagenheit) nennt.

Im Unterschied zum doctor kennt der Bauer die Welt und das Denken des herrschenden Kolumbiens sehr wohl und nutzt diese Kenntnis zu passivem Widerstand in allen Lebenslagen.
Es ist auch Grundsatz der Bauern, dass man sich mit einem corvatudo nicht unterhält, um nicht belehrt oder gar verlacht zu werden, und dass man vor ihm vor allem nie widerspricht, d.h., ein corvatudo erhält die Antwort, die er hören will. So weiß man z.B., dass bei vielen der corvatudos die traditionelle Medizin als Aberglaube und Scharlatanerie gilt, die die Volksgesundheit gefährdet.
Als Dozent der Universität in Popayán wurde ich am Anfang von den Coconucos zu den corvatudos gezählt, obwohl ich natürlich niemals eine Krawatte trug. Auf die Frage, wohin denn die Frauen zum Gebären gehen, wurde mir überall stereotyp geantwortet: ins Krankenhaus nach Popayán. Auch betonte man, dass es keine traditionellen Hebammen mehr gibt. Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass dieser Ausländer nicht ins Schema corvatudo de ruana passt, stellte sich heraus, dass die Frau eines guten Bekannten eine Hebamme ist, die ihre Tätigkeit mit einer Reihe von Ritualen verbindet. Als nun meine Gesprächspartner bemerkten, dass ich sowieso schon eine gewisse Kenntnis der traditionellen Geburtspraktiken hatte, durfte ich erfahren, dass es sehr viele Hebammen gibt und kaum ein Kind im Krankenhaus geboren wird. Man sagt dem doctor eben das, was die doctores im allgemeinen hören wollen.

Aus demselben Grund spricht man z.B. bereitwillig über die in aller Welt bekannten Heilpflanzen wie Kamille, aber nicht über die in der traditionellen Kultur so wichtigen Pflanzen zum Verschließen des Körpers, weil der doctor ja über das Verschließen des Körpers ohnehin nur lachen würde. Diese Grundhaltung kostet dem kolumbianischen Staat Jahr für Jahr eine Menge Geld.
Außerdem ist bekannt, dass ein Bauer als vernünftig gilt, wenn er Wasserleitungen, Straßen und Schulen fordert. So werden also Wasserleitungen in Gegenden angelegt, in denen es fast täglich regnet und überall klarste Bäche fließen. Analog werden Straßen gebaut, die niemand befahren will und die gleich wieder verfallen, und Schulen errichtet, die niemals von Kindern besucht werden.
Also stehen sich in jeder Region des Landes Menschen zweier Welten gegenüber, die sich gegenseitig durch Ignoranz oder durch malicia abschotten. Diese beiden Welten befinden sich aber in einer ständigen Wechselwirkung, und spätestens seit der neuen Verfassung von 1991, die den Auftrag enthält, die kulturelle Vielfalt zu achten und zu schützen, tauen die Fronten auf. Im siebten Artikel erkennt Kolumbien seinen indigenen Kulturen nach Jahrhunderten der Verfolgung und des Ignorierens und Totlügens zum ersten Mal an. Damit fällt auch jede Verfolgung des Medizinmannes weg. So wird der Zutritt zur Bauernkultur zwar leichter, aber sowohl die ignorancia wie auch die malicia sind dermaßen eingefahrene Verhaltensweisen, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis ein Bauer über Dinge, wie ich sie hier erzählt habe, einem Fremden gegenüber sprechen wird.

S. 152 f.)
Zum Abschluss möchte ich noch ein paar Worte darüber verlieren, wo Sie die indianisch-mestizische Medizinkultur antreffen. Das beschränkt sich nicht auf Kolumbien. Berichte von Mexiko bis Chile ähneln dem, was ich selbst erlebt habe. Es ist also leichter zu sagen, wo Sie davon nichts erwarten können.
Dies sind die Viertel der Wohlhabenden in den Städten, wo viele europäischer als Europa und amerikanischer als New York zur gleichen Zeit sein wollen. Erwarten Sie dort also keine Auskünfte. In manchen Ländern gibt es auch Gegenden mit einer Bauernschaft, die davon wenig weiß. In Kolumbien sind es z.B. die Antioquenos oder Paisas, die im Norden der Zentralkordillere um Cartago, Armenia, Manizales und Medellin leben. Sie gehen auf europäische Siedler zurück. Ähnliches lässt sich von Zentraltal in Costa Rica sagen, während der Norden, der Süden und die Pazifikküste dieses Landes wieder ganz zum indianisch-mestizischen Amerika gehören. Nicht zu dieser Welt gehören natürlich die Nachfahren europäischer Siedler in Brasilien, Chile und Argentinien, und auch die Schwarzen Ostbrasiliens, der Nordwesten Argentiniens, der Norden und mittlere Süden Chiles sowie das Hinterland Brasiliens gehören wieder zum Geist Indioamerikas.
Auf ihn wurde schon so oft der Abgesang angestimmt, aber dieser Geist erweist sich trotz aller Vernichtungsversuche als geradezu unglaublich vital. Die Schwarzen an Kolumbiens Westküste haben heute Medizinmänner, die wie die Heiler der Chocoindianer singen, und in den letzten Jahren häufen sich auch unter den Leuten der feinen Viertel jene, die bei besonderen Leiden einen Medizinmann aufsuchen. Seien Sie beruhigt, der Geist der Indianer ist zu stark, zu lebendig und zu anpassungsfähig, um ausgerottet werden zu können. Ganz im Gegenteil, er gewinnt an Macht.
Die Welt des Geistes ist groß, und Sie können sich vielerorts auf die Reise in ihn hinein begeben. Nur wird diese Reise sehr beschwerlich sein und Sie in Krisen stürzen. Sie müssen dafür viel Zeit aufwenden. Zwanzig Jahre nach meinem ersten Kolumbien-Aufenthalt dachte ich, das wichtigste erfasst zu haben. Dann nahm in an Ritualen teil, die mir zeigten, dass ich wiederum am Anfang eines Weges stehe. Eine neue Reise hat begonnen, ist es die Suche nach meinem Stern?

Zentrum des bezähmten Lebens


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten

Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 1, pt 2, pt 3, pt 5
S. 96 f.)
Die Bauern stehen der Bezähmung der Wildnis sehr misstrauisch gegenüber. Sie fürchten, dass die Unterwelt kein Wasser mehr geben und der erfrischende Wind ausbleiben wird. Die Welt braucht das Wildland, sonst überhitzt sie, was eines Tages zu einer Katastrophe führen wird. Dann wird die Welt umkippen: die Unterwelt wird zur Oberwelt werden, und die Welt der Menschen wird im Urozean versinken. Die Orte der Wildnis zu bezähmen, bedeutet die Poren der Erde zu verschließen und so den Kreislauf des Wassers zu unterbrechen.
Aber nicht immer ist es falsch, die Wildnis zu bezähmen. Der Mensch kann in der Wildnis nicht leben, zu stark sind dort Geister, Wind und Wetter. Um gesund leben zu können, muss er rund um seine Behausung die Kraft der Wildnis zurückdrängen. Er muss Wälder abbrennen, um seine Felder anzulegen. Aber dies ist nicht der einzige Grund. Er vertreibt dadurch auch die Geister aus seinem Umland, die ihm, seiner Frau und seinen Kindern Schaden zufügen könnten. Aber der Bauer muss wissen, wo er dies macht. Er beschränkt sich auf Flächen, die ihm die Wildnis zur Verfügung stellt. Sie sind relativ flach und mit einem Unterboden aus weichem Gestein. Dort legt er seine Felder an, die er gegen die Umtriebe der Geister zudem mit Hecken einzäunt. Aber nach einiger Zeit ermüdet der Boden. Da alle Lebenskraft aus der Wildnis stammt, muss der Bauer wieder Strauchwerk wachsen lassen, dann kommt die Kraft in den Boden zurück. Diese darf aber auch nicht zu viel werden, denn sonst könnten die zarten Kulturpflanzen dort nicht mehr wachsen.
Das Zentrum des bezähmten Lebens ist das Dorf. Dort bildet wiederum die Kirche die Mitte.

Ich kann mir vorstellen, was viele von Ihnen, liebe Leser, jetzt denken werden: "Achso, die sind Katholiken. Das kennen wir ja schon. Die sind also nicht mehr rein, und ihre Weltanschauung ist ein jämmerlicher Mischmasch. Alle kennen das Vaterunser und das Gegrüßt-seist-Du-Maria." Das sind genau die Marienheiligtümer. Nahezu jede Ortschaft hat ihre Maria, und zu deren Festtagen kommen alle, die sich der Region noch zugehörig fühlen, auch wenn sie weit weg in der Städten wohnen. Lassen Sie mich hier die Geschichte der Maria aus der Höhle von Cuchumba stellvertretend für die von Pancitará, Caquiona, Nataga und so viele andere erzählen, denn all ihre Geschichten sind ähnlich.
Im Cocuygebirge, in einem gewaltigen Hufeisen aus vergletscherten Bergen, stürzt ein Schmelzwasserbach in eine Höhle, die Cuchumba genannt wird. Lange vor der Ankunft der Spanier verehrten die Indianer dort eine Marienfigur, die von einheimischen Priestern bewacht wurde. Als die Spanier die Täler eroberten, stahlen sie auch die Marienstatue. Die Berge erzürnten, bebten, und die Wächter sprangen von einem hohen Felsen aus Verzweiflung in den Tod. Die Spanier brachten die Statue in die Ortschaft Guican und erbauten um sie die Kirche. Aber die Marienstatue entfloh und kehrte an ihren Ursprungsort in die Höhle zurück.
Daraufhin schlossen die Bauern der Gegend mit der Maria einen Vertrag. Bleib Du bei uns, und wir bringen Dich jedes Jahr einmal zurück in die Höhle. So hebt sich in der Maria von Cuchumba der Widerspruch von Wildland und Kulturland, Wildnis und Bezähmung auf. Die Lösung des Widerspruchs bedeutet kosmische Harmonie und Gesundheit. Damit stellen die Marien das Zentrum des andinen Weltbildes dar.

An dieser Stelle muss noch zu Geistern wie jucas oder mohan und ihrem Donner ein Zusatz angebracht werden. Die Missionare wollten diese Herren der Wildnis verdammen und nannten sie Teufel oder Dämonen. Die Bauern übernahmen nur die Ausdrücke, nicht aber die Verdammung. Diese Gestalten können zwar wegen ihrer Kraft gefährlich werden, doch sie geben Wasser, Wind und Leben. Wer erlernt, mit der Wildnis in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten, wird zum Heiler. Nicht von ungefähr sieht man von der Cuchumbahöhle aus den Felsen der Teufelskanzel. Für die Bergbauern geht es nicht um den Widerspruch, sondern um seine Lösung.
Die Marien enthalten noch viele andere Sinnaufladungen. Da die Missionare Abbilder, in denen Maria auf der Schlange steht, mitbrachten, machten sie ein Angebot an das andine Denken. Für die Bewohner der südlichen Zentralkordillere und des oberen Magdalenatales bedeutet dies keineswegs, dass Maria der Schlange den Kopf zertritt. Nein, sie wird so zur lebensspendenden Wassermutter, die entweder in der Form einer schönen Frau oder als Schlange auftritt. Ein weiteres Angebot waren Darstellungen von Maria auf der Mondsichel. So war es leicht, sie als die Mondmutter zu verstehen.
Kein anderer Himmelskörper ist für die Bauern so wichtig wie der Mond.

S. 104)
Für das Kulturland selbst sucht man relativ flache und trockene Gebiete mit schwachem Gestein als Untergrund. Dort, wo man sich noch eine Wald-Feld-Rotation erlauben kann, sind die Ränder der Felder meist unregelmäßig. Dort, wo sich seit langer Zeit der Wechsel auf Nutzung und Bewuchs mit Buschwerk beschränkt, werden mit Hecken Parzellen abgetrennt. In der Ostkordillere sammelt man dazu Steine aus den Feldern und errichtet daraus lose geschichtete Mauern, auf denen dann wächst, was wachsen will.
In der Zentralkordillere pflanzt man lebende Hecken. Beides soll auch die sogenannten guandos, die Windgeister der Berge abhalten. Auch Diebe sollen durch Dornenbüsche, Kakteen und Wolfsmilchgewächse, die Allergien auslösen, abgewehrt werden. Innerhalb dieser Parzellen wird aber der Boden bei weitem nicht nur mit einer Pflanze bebaut. Vielfalt ist angesagt, um ein schnelles Ermüden der Erde zu verhindern. So baut man häufig in einem scheinbar regellosen Durcheinander an. Dabei weiß man sehr genau, welche Pflanzen Freunde sind. So liebt es der Mais, wenn sich eine Bohne an ihm rankt. Erschöpft sich der Boden, so nutzt man ihn noch einige Zeit als Weide. Langsam lässt man ihn dann mit Buschwerk zuwachsen. Hat sich nach Jahren der Boden erholt, brennt man das Buschwerk ab. Aber die Erde ist in ihrer Ruhezeit wieder wild geworden und muss erst gezähmt werden. Dazu bebaut man sie einige Zeit mit resistenten Knollenfrüchten wie Kartoffel oder Maniok, erst danach verträgt sie den Mais. Der Düngung steht der Bauer meist misstrauisch gegenüber, weil er dies gewissermaßen als unerlaubtes Doping der Erde betrachtet, das über kurz oder lang zu deren Kollaps führen wird.
Diese Art das Land zu bestellen, hilft wie gesagt, die Menschen und die Erde gesund zu erhalten. Landbestellung ist so für den andinen Bauern nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein medizinisch-religiöser Akt. In der Landnutzung wie in der Medizin prallen die Kulturen aufeinander. Für den Bauern ist eben die Landnutzung ein Teil seiner Medizin.
Wie ganz anders erscheinen dagegen die Felder der Großgrundbesitzer und der Bauern, die aus den Provinzen der Antiquenos stammen. Beide hassen die Wildnis und besingen Axt und Feuer, die sie vernichten. Sie neigen zur Monokultur. Selbst auf dem Luftbild kann man erkennen, ob in einer Region die indianisch-mestizische Tradition vorherrscht oder ob wir es mit Antiquenos oder Grundbesitzern westlicher Prägung zu tun haben.

S. 106)
Draußen auf dem Land leben die, die es bebauen. Ihre Häuser sind genauso Kulturgut wie ihre Art des Anbaus. Mag ein Europäer voreilig urteilen, die Häuser seien ärmlich, so entsprechen sie doch meist den Vorstellungen der Bauern.
Als ich jemanden suchte, der in unserem Haus bei Popayán wohnen sollte, um darauf aufzupassen, stellte sich sehr schnell heraus, dass die europäische Raumaufteilung ihrem Lebensgefühl zuwider lief. Zudem war ihnen der Ort nicht geheuer. Erst als ich an eine andere Stelle ein kleines Haus im Stil der Bauern stellte, fand ich jemanden, der bereit war dort zu wohnen.
Wie wichtig das Haus für das Wohlbefinden ist, sieht man bei Leuten aus Tolima, die in einer Stadt zu Wohlstand gekommen sind. Gern bauen sie sich in ihre Stadtwohnung die Innenseite eines Palmdaches, denn das gibt das Gefühl von Heimat.

S. 136 f.)
Auch dem Medizinmannwesen entkam ich nicht. Es gibt so viele Wege zum Meister im Umgang mit der Welt des Unkontrollierbaren. Jetzt erfuhr ich von einer neuen Variante, der Grabräuberei. Zwei Gruppen von Männern waren zu dem Zeitpunkt dabei, auf dem Gelände des Landgutes Gräber aus vorspanischer Zeit auszuheben. Sie ruhten sich unter einem Kiosk mit Palmdach aus, und da sie bemerkten, dass ich von den Geistern der Vorzeit schon einiges wusste, redeten sie mit mir, als wäre ich auch hier, um Grabbeigaben zu suchen. Langsam stellte sich die verschrieene Grabräuberei als eine schamanistische Tätigkeit dar, die fast unausweichlich dazu führt, den Weg ins Medizinmannwesen einzuschlagen. Wie bereits gesagt, kennt dieser Weg viele Varianten.
Häufig beginnt der Werdegang eines Medizinmannes mit der Grabräuberei, der sogenannten guaqueria. Diese Menschen suchen die Hinterlassenschaften der Vorzeit. Guacas sind gefährliche Orte. Sie werden beschützt von Schlangen, giftigen Fröschen und Ameisen. Blitze und selbst Sternschnuppen gehen auf sie nieder, und ihnen entströmt das mal aire, das schwerste Krankheiten verursachen kann. Der guaquero begibt sich also in eine Welt unwägbarer Gefahren. Seine Vorsichtsmaßnahmen ähneln denen von Fischern und Jägern. In den Tagen vor seiner Arbeit muss er Frauen meiden, um durch sie nicht geschwächt zu werden. Ihr Geruch würde zusätzlich die Geister der guacas wild machen. Bevor er sein Werk beginnt, verschließt er sich den Körper, damit in ihm bleibe, was drin bleiben muss und nichts reinkomme, was nicht rein darf. So wie man Jagdtiere nicht finden kann, sondern sie sich zeigen, muss sich auch eine guaca selbst schenken.

S. 139 f.)
Wer die Philosophie der andinen Bauern verstehen will, muss sich mit ihrer Sicht des Wassers befassen. Nicht umsonst bezeichnen sich z.B. die Leute in den Hängen des Vulkans Puracé als Leute der Wassermutter. Das Wasser hat in diesem Weltbild seine Heimat in einem Unterweltozean. Dort ruht es sich von seinem ständigen Lauf aus, um erholt aufs Neue seinen Weg aufzunehmen. In diesem Meer leben – unbehelligt von den Machenschaften der Menschen – die Urzeitwesen. Dort herrscht die vollkommene Wildnis, aus der alle Lebenskraft entspringt. Dieses Wasser der Tiefen ist auch die Heimstätte der Naturgeister, die auf der Erdoberfläche unberührte Regionen gegen die Einflüsse des Menschen verteidigen. Auf diese Art und Weise ist jedes Wildland engstens mit der Unterwelt verbunden. Nur dort ist das Wasser gewillt, an die Oberfläche zu treten, und seine Wege sind die Schlupflöcher der Geister. Schneeberge, steile Felsen, Klammen, Gebirgsseen, Sümpfe und Wälder fungieren so als Wasserspender und bevorzugte Aufenthaltsorte der Geister. Ihre Erscheinungsform kennt viele Varianten, aber immer werden sie durch starke Sexualität gekennzeichnet, in der sich ihre überragende Lebenskraft ausdrückt.

Der Bauer setzt Wasser auch immer mit Schlangen in Verbindung, die für ihn die Vitalität symbolisieren. Darin zeigt sich u.a., dass Lebenskraft auch immer unbändig wild und gefährlich ist. Je mehr Lebenskraft ein Lebewesen oder Gegenstand in sich konzentriert, desto mehr entzieht es sich der menschlichen Kontrolle. Für diese Wildheit hat man in jeder Region einen eigenen Ausdruck. Die Leute im Zentralmassiv nennen sie auca, die Paez ptans, aber meist spricht man von lo bravo oder lo hieloso. Das bedeutet das Wilde bzw. das Eisige.
Unter diesen Ausdrücken fasst der Bauer alles zusammen, was sich der menschlichen Kontrolle entzieht. Darunter fällt so unterschiedliches wie hohe Berge, Seen, Flüsse, Wasserfälle, das Meer, große Wälder, Erdbeben, Wetter, Wind, Gestirne, Unterwelt, Geburt, Pubertät, Sexualität, alle starken Emotionen von Liebe über Neid bis hin zu Hass und Trauer, Menstruation, Schwangerschaft, Krankheit, Streit, Krieg, Feste und der Tod.
All das Wilde und Unbezähmbare bringt die Gefahr von Krankheit und Tod, ist aber Grundbedingung für eine Erneuerung des Lebens. Die Lebenskraft wird meist calor (Hitze), espiritu (Geist) und im Süden des Landes guaira genannt. Guaira ist das Strömende, sei es nun Wasser, Wind oder Blut, und bedeutet so auch Kraft.
Das Wasser hat in dieser Ordnung einen ganz besonderen Platz inne. Es ist weder hart noch riecht oder schmeckt es. Dies macht aus dem Wasser das kälteste der Elemente. In seiner Bewegung ist Wasser aber unvergleichbar lebendig und stark und verkörpert so die Lebenskraft an sich. Diese Dialektik ist ein Grundprinzip des Denkens andiner Menschen. Dies schlägt sich auch im menschlichen Leben nieder. So verbraucht der, der im Übermaß mit dem Wilden zu tun hat, seine Lebenskraft, wer aber die Wildnis zu sehr meidet, wird von seiner eigenen inneren Lebenskraft überladen. Da aber auch diese wild ist, kommt er dadurch in gleicher Weise zu Schaden und verliert so seine Kraft. So gleichen sich in ihrem Effekt die Extreme von Hitze und Kälte.

S. 141)
Die meiste Lebenskraft zeigt sich immer dort, wo Heißes und Kaltes zusammentreffen, so etwa im Eis, das die Felder verbrennt, wie man sagt, oder an den Kratern der schneebedeckten Vulkane oder an Orten, wo heiße und kalte Quellen nahe zusammenliegen. [...]
Die Wassermutter hat, wenn sie sich den Menschen zeigt, zwei Erscheinungsformen. Entweder tritt sie als betörend schöne Frau von unwiderstehlicher Attraktivität auf, oder sie nimmt die Form einer Schlange an. Sie ist die Herrin des Wassers und all seines Lebens. Dies kann sie vor dem Menschen beschützen, sie kann es ihm aber auch schenken. Für die Bauern gibt es keine guten Fischer, sondern nur Männer, die die Sympathie der Wassermutter erworben haben. Glück beim Fischfang beinhaltet aber, wie jeder Umgang mit den Mächten der Wildnis, eine Gefahr. Die Wassermutter ist eine Frau und will mit dem Mann ihres Herzens zusammenleben. Über kurz oder lang wird sie den glücklichen Fischer zu sich in ihr Unterwasserschloss holen, aus dem sie ihn nicht mehr lebendig entlassen wird. Wer hintereinander mehrmals außerordentlichen Erfolg bei der Fischerei hatte, tut deshalb gut daran, für einige Zeit die Flüsse und Seen zu meiden. Die Gefahr kündigt sich häufig auch in hocherotischen Träumen an, in denen die Wassermutter dem Fischer erscheint.

Christliche Beschwörungen der Schlange


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten

Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 1, pt 2, pt 4, pt 5
S. 76)
Wegen der vielen heißen Pflanzen, die während der puestos gebraucht werden, müssen alle Beteiligten in den nächsten Tagen alles Kalte meiden. Sie dürfen sich nicht baden, dürfen nichts kaltes essen. Die Zeit, in der diese Verhaltensregeln (cuidos) gelten, ist die letzte Phase der Behandlung. Sie soll alle Beteiligten, besonders aber den Patienten in das normale Leben zurückführen. Die Rückkehr des Geistes an seinen angestammten Platz im Körper wurde mir immer wieder als Lichterlebnis und Hitzestoß beschrieben. Es tritt meist in den nächsten drei oder vier Tagen nach dem Ritual ein.
Heilungen sind in jedem Fall ein erneuter Durchgang durch die Wildnis, aus der alle Lebenskraft stammt, die aber auch tödliche Gefahr birgt. So ist verständlich, warum nach solchen Ritualen dieselben Verhaltens- und Speiseregeln wie für die Wöchnerin und die Menstruierende gelten, die ebenfalls eine Phase der Wildnis durchlaufen, die Erneuerung und Leben bringt. Aber, wie bereits gesagt, entwickelt sich jede Behandlung anders. Meist stellen sie Mischungen von Praktiken aus dem Bereich der sobaderos, rezanderos, sopladeros, hierbateros usw. dar. Dann gibt es wieder Behandlungen, in denen der Patient nur erlebt, wie der Heiler singt oder Wasser bespricht. Ein Mann aus Cumbitara erzählte mir, dass ihn ein Medizinmann von seinen Verdauungsbeschwerden befreit hat, indem er in den Wald ging und einen Knoten in eine Liane machte. Ein anderes Mal besuchte der Behandelnde nur als Geist seinen Patienten in der Nacht. Es gibt ebenso viele Wege, einer Person das richtige Maß an Geist zurückzugeben, wie es Möglichkeiten gibt, dieses Maß zu verlieren.
Die Aufgaben der Medizinmänner beschränken sich aber nicht auf das Heilen. Sie suchen den Ort für Häuser und Felder, reinigen Wohnungen und Menschen vorbeugend von schlechten Einflüssen, verschließen den Körper ihrer Patienten, beeinflussen Wetter und Wasser, sorgen für Glück in der Liebe und im Geschäft, und viele führen auch Schadenszauber aus. Besonders von alten Medizinmännern, die sich nicht zurückziehen, sagt man, dass sie zunehmend ihre Fähigkeiten dazu missbrauchen. Nicht selten werden alte Medizinmänner, die solchen Ruf erlangt haben, von ihren Mitmenschen getötet. Selbst die Richter des Landes erkennen dies bisweilen als einen Akt der Notwehr an. Der Rückzug an einen einsamen Ort schützt die alten Meister vor diesem Risiko.

S. 80 f.)
Die Universität selbst liegt südlich von Popayán auf einem Hügel. Oben auf dem Hügel stehen Häuser mit Blick auf die Vulkane Sotará und Puracé und auf die Westkordillere vom Patia bis hinauf zu den fernen Farallones de Cali.
Als ich vor Jahren einmal durch diese Gegend fuhr, dachte ich, es wäre schön, auf einem dieser Hügel zu wohnen, und dieser Traum erfüllte sich jetzt.
Die Universität war beauftragt, einen Betriebsplan für den Nationalpark von Puracé zu erstellen. Der liegt aber im Zentralmassiv zwischen dem Vulkan Puracé und dem Cutungagebirge. Es ist eine Landschaft von Vulkanen, paramos, Seen und Wäldern. Hier, fast am Äquator, sind die Niederschläge häufig und ergiebig. Fast das ganze Jahr über hüllt sich diese kühle Hochregion in Wolken, die das Land in einen riesigen Schwamm verwandeln. Vier große Flüsse entspringen dort oben. Es sind der Rio Magdalena, der in die Karibik mündet, der Cauca, der sich nach tausend Kilometern getrenntem Lauf mit dem Magdalena vereinigt, der Caqueta, ein mächtiger Zufluss des Amazonas, und der Patia, der die Westkordillere durchbricht und seine Wasser dem Pazifik gibt. [...]

Zuerst freute ich mich darüber, endlich weg zu sein vom Thema Medizin und etwas neues beginnen zu können, bald aber stellte sich heraus, dass für die Bauern der Berge alles auch Medizin ist und Medizin in allem steckt. So wurde aus dieser Forschung ein direkter Anschluss an die Zeit in Tolima. Meine Leute waren jetzt vor allem die Nationalparkwächter, die alle aus den Hängen des Nationalparks stammen. Jedes Wochenende fuhr ich hinauf zu ihnen, und wenn ich nur am Vormittag Lehrveranstaltungen geben musste, hetzte ich mittags noch meinen Jeep über die Holperstraße hinauf bis über die 3.000 Meter.
Monat um Monat durchstreifte ich nun mit diesen Einheimischen die paramos und das Dickicht der Bergwälder. Diese Wälder sind eine unheimliche Welt. Die Bäume sind von Moosen und Epiphyten bewachsen. Berührt ein Ast den Boden, verwurzelt er sich, und so werden verschiedene Stockwerke von Arkaden geschaffen, auf denen dann wieder Bäume wachsen. Jede Pflanze ist in irgendeiner Weise mit den anderen verbunden. Der ganze Wald ist ein gigantisches Lebewesen, und die einzelnen Pflanzenarten sind nur verschiedene Zellen dieses Organismus, der die Berge bis hinauf auf 3.500 Meter überzieht. Welche Ordnung haben die Menschen wohl in ihren Gedanken diesem heillosen Durcheinander gegeben? Sie ausfindig zu machen war meine Aufgabe, und die ließ mich zuerst erschrecken.

Als erstes musste ich lernen, wie man sich in dieser Welt bewegen muss. Wälder, Seen, die Vulkane und Felsen sind das Land der Wildnis, und die fordert ein ganz bestimmtes Verhalten. Sie ist gefährlich: Wenn sie einen nicht mag, schickt sie Regen und Hagel, lässt die Flüsse anschwellen, lässt einen den Weg verlieren und kann sogar Erdstöße erzeugen. Ganz leise muss man da oben sein und bloß keine Angst aufkommen lassen. Wer Angst hat, verstärkt die Gefahren. Das wurde mir einmal sehr eindrücklich beigebracht.
Wir saßen in einer Nationalparkshütte am Feuer und einer schüttete aus einem Kanister Benzin in die Glut. Ich dachte, der spinnt, der schüttet Benzin ins Feuer und stand auf. Darauf erhielt ich eine Standpauke, denn wer Angst hat, der bringe selbst Wasser zum Brennen. Es war auch kein Benzin, sondern Diesel. Angst raubt den Geist, den man braucht, um sich in der Wildnis zu bewegen. Nicht der hat Geist, der gescheite Bücher schreibt, sondern der, der bei Nacht den Weg über einen paramo findet und dabei nicht stolpert und sich nicht erschrecken lässt. Wer Angst hat, schafft das nicht, denn sie verärgert die Wildnis mit ihren Geistern, und der Tod durch Auskühlen in dieser ständig feuchten Welt steht dort oben nahe.

S. 87 f.)
Das Bestimmen der Medizin hängt also vom persönlichen subjektiven Erlebnis des Heilers ab. Er kann nur behandeln, wenn er Krankheit und Medikament selbst in der Wirkung erlebt.
Analog zu dem über die Pflanzen Geschilderten, läuft die Bestimmung von mineralischem Material und von tierischer Medizin. Tiere drücken ihre Kraft in ihrer Beweglichkeit und Wildheit aus. Schlangen sind das Wildeste, gefolgt von Raubtieren und Greifvögeln. Auch giftige Insekten und Amphibien gehören zu den Tieren von besonderer Wildheit. Nachtaktive Tiere sind dabei stärker als Tiere des Tages. Wiederum gibt der Wohnort Kraft, die über die Pflanzen und Beutetiere aufgenommen wird. Harte Teile des Tieres, wie Knochen, Klauen, Schnäbel, Hufe und Geweihe konzentrieren die Kraft in besonderem Maße. Fett und Galle sind durch ihren Geruch und Geschmack ganz besondere Stoffe. Das Fleisch ist umso kräftiger, je mehr Eigengeschmack es besitzt. Wiederum muss der endgültige Wert von Steinen und von tierischem Material durch die Töne, die Farben und die Zuckungen erkannt werden.

Kaum hatte ich dies in seinen Grundzügen verstanden, kam schon die nächste Überraschung. Jene, die die meisten Pflanzen, Knochen, Klauen, Schnäbel, Steine etc. verwenden, mögen gute Heiler sein, stellen aber nicht die Hohe Schule der einheimischen Medizin dar. Die großen Meister brauchen selbst kein Yagé und kein Coca mehr, um Farben und Ströme zu erkennen. Nur wenige Male im Jahr nehmen diese Lehrmeister noch diese Pflanzen, um ihre Wahrnehmungsfähigkeit aufzufrischen.
Auch geben sie dem Patienten weniger aufwendig zubereitete Medizin als die weniger gebildeten Medizinmänner. Dafür arbeiten sie mehr mit den Gerüchen der Pflanzen, mit Besaugen an Körperteilen, mit Abstreichen des Körpers mit Pflanzen, Steinen und Knochen und mit dem sogenannten soplo. Der soplo besteht darin, dass der Heiler eine Pflanze kaut, dazu einen Schluck Anisschnaps nimmt und das Gemisch mit dem Mund auf den Patienten sprüht. Man vergleicht den Atem der Schlangen und ihr Fauchen mit dem soplo des Medizinmannes. Dabei vergesse man nicht, dass auch die Urgewalten der Natur wie Blitz, Wasser und Wind Schlangen sind.
(Christliche Beschwörungen der Schlange, die besonders aus religiöser Sicht ob der Verführung Evas und des damit verbundenen Paradiesverlusts in höchstem Maße verfolgungswürdig erscheint, sind seit dem 9. Jh. nachweisbar.)
Nach einem Jahr hatte ich lange Listen von Pflanzen, weil im Wald kaum ein Gewächs steht, das nicht benutzt wird. Aber über die Anwendung lässt sich konkret nicht mehr sagen, als dass sie aus der Interpretation der senas und pintas resultieren. Damit haben wir aber die Grenzen der Beschreibbarkeit erreicht und auch schon überschritten. Wer den Umgang der Andenbauern mit den Pflanzen lernen will, der muss fühlen, riechen, schmecken und selbst hören, denn jedes Ding hat seinen Klang, in dem seine Essenz liegt. Das geht soweit, dass der Medizinmann, der den Ton einer Pflanze kennt, das Gewächs nicht braucht. Er wendet sie an, indem er ihren Ton singt.

S. 92)
Oberhalb der Waldgrenze verflacht das Gelände. Hier beginnt die ausgedehnte Hochfläche des Paramo de Turrebamba. Die paramos, also die Hochregionen über der Waldgrenze, sind ebenso von der Kraft der Geister geladen wie der Punturco. Hier – auf den meist regenverhangenen Hochflächen – treffen wir auf die puma, die Frau des jucas. Die des Sotará ist von solcher Anziehungskraft, dass ihr kein Mann widerstehen kann. Hat sie ihn in ihre Arme gelockt, zeigt sie ihren eigentlichen Charakter, wie wird zur puma, die den Geliebten mit einem Biss tötet.
Doch nicht nur wegen der pumas stellen die paramos Gegenden voller Gefahr dar. Diese geht auch von den vielen Seen und Seeaugen aus, die auf den paramos liegen. Man spricht von den Seen, in denen die Wasser zur Welt kommen. Hier liegen direkte Eingänge und Ausgänge für die Unterwelt. All diese Seen können wild werden. Dann erzeugen dieselben Nebel, um den Wanderer zu verwirren, oder Regen, Hagel und Wind.
Diese enorme Kraft verursacht bei einem Menschen, der nicht gelernt hat, diese Stärke zu nutzen, Schwindelanfälle. Die Medizinmänner baden von Zeit zu Zeit in diesen eiskalten Gewässern, um ihre persönliche Kraft zu vermehren. Sie müssen dort tauchen, wo der Abfluss den See verlässt. Wer dies aushält, hat die Kraft zum Heilen.

S. 94)
Die paramos gelten als Hort der Wildnis, und die steht in Opposition zur Kirche im Dorf. Wer in den letzten Tagen in der Kirche war, darf nicht dort hinauf gehen, und vor allem darf man dort oben nicht beten. Denn beten bedeutet Angst zeigen, und dies wiederum stimmt den paramo noch wilder.
Angst erzürnt das Meer und Beten bringt den Tod. Aber die Wildheit der paramos wird noch überboten durch die der Vulkane, die aus den Hochflächen aufsteigen. Diese erzeugen Winde, die übers Land wehen, und produzieren selbst ihren Schnee und den Hagel. Die Bauern sagen, sie werfen Eis. Es ist bezeichnend für die andinen Menschen, dass sie das Oberste, nämlich die Vulkane, am engsten mit der Unterwelt verbinden. Für die Coyaimas sind die Vulkane sogar die Beschützer der Fische in den Flüssen, die wiederum dem Unterweltwesen mohan gehören. So treffen sich die Extreme.
Der Vulkan Sotará wird besonders gefürchtet, da er nicht wie sein nördlicher Nachbar, der Puracé, ein Atemloch besitzt. Beide Vulkane stehen untereinander in Verbindung. Im Falle des Erzürnens können sie schwerste Erdbeben auslösen. Die Rioblanquenos sehen das katastrophale Erdbeben von 1983 in Popayán als eine Unterhaltung zwischen Puracé und Soltará an.

Die Sternwanderer


Franz Xaver Faust: Totgeschwiegene indianische Welten

Eine Reise in die Philosophie der Nordanden pt 1, pt 3, pt 4, pt 5
S. 46 f.)
In einem abgedunkelten Raum bringt die Bauersfrau ihr Kind in hockender Stellung zur Welt. Ins Krankenhaus gehen wenige, weil die Vorgehensweise der Ärzte die Grundfesten der Bauernkultur vergewaltigt. Während der Geburt fließt Blut, kommt ein noch hilfloses Wesen zur Welt und steht die Frau "offen", so ist dem Kind und der Mutter leicht ihre Lebenskraft zu rauben.
Damit werden die Geister auf den Plan gerufen, die ihre Stärke auch dadurch bewahren, dass sie Menschen die Kraft entziehen. Es ist eine der Hauptaufgaben der Hebammen, diese Gefahr abzuwenden. Dazu räuchern sie den Raum aus. Sie verwenden zu diesem Zweck stark aromatische Pflanzen, die wiederum meist aus dem Wildland stammen. Man wehrt also die Wildnis mit ihren eigenen Produkten ab.
Eine besonders gefährliche Phase ist das Durchtrennen der Nabelschnur. Durch das offene Ende könnte nun leicht der Lebensgeist des Kindes entkommen. Dagegen muss der Körper des Kindes zum ersten Mal verschlossen werden. Es werden dazu viele verschiedene Substanzen von Pflanzen und Tieren verwendet. [...] Man badet das Kind in einem Absud aus Pflanzen, die sowohl dazu dienen, Geister zu rufen, wie auch diese abzuwehren. Tabak und Coca sind zwei dieser Pflanzen. Gemeinsam ist beiden, dass sie viel Hitze oder Lebenskraft gespeichert haben. Mutter und Kind verbleiben die nächsten Tage und Wochen in einem abgedunkelten, verschlossenen Raum. Sie müssen vor Wind und dem Mondlicht geschützt werden. Vor allem dürfen sie nicht mit Wasser in Berührung kommen, denn das Wasser ist das Element der Geister schlechthin und würde ihnen so ihre Kraft rauben. Besonders weil in den Krankenhäusern die Wöchnerinnen mit Wasser gewaschen werden, wagt sich kaum eine Bäuerin zum Gebären ins Krankenhaus. Das Personal dort, das aus den kulturfremden Städten stammt, lässt sich aus Besserwisserei zu wahren Verbrechen hinreißen. So erzählten mir Krankenschwestern, dass sie Bauersfrauen festbanden, weil sie sich nicht waschen ließen.

Vier Tage nach der Niederkunft wäscht man im Gehöft die Frau mit einem Wasser, das die Kraft sehr starker aromatischer und bitterer Pflanzen aufgesaugt hat, und so von seiner spezifischen Kälte befreit wurde. Das Kind liegt streng gewickelt neben der Mutter. Man nennt das Umwickeln der Kinder chumbar. Dies soll die schreckhaften Zuckungen der Neugeborenen verhindern. Sie könnten dabei ihren Geist verlieren und sterben.
So bleiben Mutter und Kind abgeschlossen, und der Vater oder jemand aus der Verwandtschaft betreuen sie vier Wochen lang. Nochmals müssen die Mutter und das Kind mit einem Kräuterbad verschlossen werden, bevor sie das Zimmer verlassen. Noch ist der Geist des Kindes sehr lose und leicht vom Körper zu trennen. Viele Handlungen werden vorgenommen, um dem vorzubeugen. In Tolima bebläst z.B. die Mutter aus diesem Grund das Kind vor dem Hinlegen mit dem Rauch einer Zigarre. Dasselbe tut sie, wenn sie an einem Gewässer oder einem Felsen vorbeigehen. Langsam festigt sich der Geist des Kindes.
Aber kaum ist ein Jahr vergangen, beginnt eine neue Phase der Gefahr. Das Kind macht seine ersten Schritte und erschrickt über seine Stürze. Wiederum muss das Kind verschlossen werden. Spätestens jetzt soll das Kind auch getauft werden. Dieses Sakrament entzieht das Kind der Geisterwelt und ist so ein besonders wirksames Verschließen des Körpers. In Tolima hält man es sogar für notwendig, die Taufe zu wiederholen, wenn ein Mensch zu stark von den Geistern bedroht wurde. Trotzdem wird kein Kind aufwachsen, ohne einmal an Schreck zu erkranken. In leichten Fällen merkt man das daran, dass das Kind nicht aufhört zu schreien. Dann nimmt man das Kind auf den Arm, bebläst es mit Zigarrenrauch und ruft mit lauter Stimme: "Mein Kind geh nicht weg, bleib da!" Dies wiederholt man solange, bis sich das Kleine beruhigt. Kinder sind vielen Gefahren ausgesetzt. Nicht nur die Geister lassen nicht ab von ihnen, auch neidische Menschen können sie verhexen. Zum Schutz gegen die Gefahren bindet man den Kindern in all den Teilen Lateinamerikas, in denen indianisches Erbe lebendig ist, eine Schnur ans Handgelenk, an der glänzend rotschwarze Samen aufgereiht sind. Der rote Teil der Samen zieht die Machenschaften der Menschen auf sich, der schwarze die der Naturgeister und Toten. Wenn nun das Kind schädlichen Kräften ausgesetzt ist, zerspringt einer der Samen, aber das Kind bleibt gesund.

Gänzlich unverständlich für Europäer ist wohl auch, warum die Sympathie und die Zuneigung von Fremden ein Kind schwer schädigen können. Bei den Coyaima erklärte man mir das so: Wenn ein Fremder ein Kind anlächelt oder ihm was Gutes tut, verliebt sich das Kind gewissermaßen in diese Person. Der Fremde geht aber wieder, und ein Teil des Geistes des Kindes will bei ihm bleiben. Dieser Teil trennt sich vom Körper und das Kind erkrankt. So kann es geschehen, dass man Fremde auffordert, ein Kind zu schlagen, wenn man diese Gefahr erkannt hat. So verursachte Krankheiten kommen auch bei erwachsenen Menschen und selbst bei Haustieren vor. Man nennt sie mal de ojo, das Üble vom Auge.
Mit dem Heranwachsen des Kindes festigt sich auch sein Geist, und die Gefahr, dass dieser sich vom Körper trennen könnte, nimmt ab. Nach und nach erlernen die Kinder die Arbeiten der Eltern. Mädchen helfen früher mit als die Buben, aber selten kommt das Spiel zu kurz. Meist besuchen die Kinder dort, wo eine Schule in der Nähe ist, diese auch einige Jahre lang und lernen Lesen und Schreiben und oft viel unnützes Zeug, das mit ihrem Alltag nicht das geringste zu tun hat. [...]

Die Kinder werden nun kleine Erwachsene, deren Aufgabenbereich mehr und mehr dem der Großen ähnelt. Spielerisch ahmen sie alles nach, was ihnen vorgelebt wird. Dazu gehört sowohl für Buben als auch für Mädchen das Sexualleben. Dennoch bedeutet der Eintritt der Pubertät wieder einen Einschnitt im Lebenslauf, der den Geist der Person in Gefahr bringt. Diesmal resultiert die Bedrohung aus dem starken Anwachsen der persönlichen Lebenskraft. Sie kann dem Körper leicht zu viel werden und so verloren gehen. Der persönliche Geist sitzt also wieder sehr lose. Da die Heranwachsenden aber wesentlich mehr Kräfte besitzen als Kleinkinder, stellen sie für die Naturgeister und auch für gewisse Menschen eine besonders lohnende Beute das. Einem Pubertierenden seinen Geist zu rauben, gilt als besonders nutzbringend.
Für das Mädchen setzt nun noch dazu Monat für Monat eine Phase voller Gefahr ein, die es bis in die Wechseljahre begleiten wird: die Menstruation. Ihre Lebenskraft, die primär im Blut sitzt, wächst solange an, bis diese sich im Menstruationsfluss den Weg aus dem Körper sucht. Ist das Mädchen nun während dieser Tage einem Umstand ausgesetzt, der ihre Kraft vermindert, versiegt der Blutfluss und die überschüssige Hitze im Blut kann z.B. in den Kopf steigen und schwerste Krankheiten verursachen. Deshalb gelten für die Frau während ihrer Tage eine lange Reihe von Verhaltensregeln. Auf keinen Fall darf sie mit Wasser in Berührung kommen, den Mond sehen und weder auf einem Friedhof noch an einem Ort der Wildnis verweilen. Nicht einmal ihr Mann darf solche Plätze aufsuchen, denn er könnte von dort den Einfluss der Wildnis mitbringen. Fischer und Jäger müssen in diesen Tagen zuhause bleiben. Da sie nun offen ist, wie die Bauern sagen, kann schlechter Einfluss auch in sie eindringen, und zuviel ihrer eigenen Kraft entweicht.
Besonders gefährlich kann ihr der Regenbogen werden, der ohnehin als Krafträuber und Verursacher von Hautleiden gefürchtet ist. Eine Menstruierende kann durch den Regenbogen geschwängert werden. Im Süden der kolumbianischen Anden sagt man, der arco oder cuiche sei ein Frosch, der wie dieses Tier in den Sümpfen lebt. Eine vom Regenbogen Geschwängerte gebäre deshalb nach wenigen Monaten einen toten Frosch.

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Trotz des Eintretens der Menstruation steigt aber die Hitze, die Lebenskraft, des jungen Mädchens an, es gerät in immer größere Gefahr. Ein Teil dieser Stärke findet sich im Haar, besonders im schwarzen Haar. So bevorzugen die Geister junge Frauen mit langen schwarzen Haaren. Um die Mädchen aus der Gefahr zu bringen, feiert man deshalb z.B. in den Bergen Tolimas ein Fest, in dessen Verlauf man dem Mädchen die Haare schneidet und ihm die Geladenen Geld schenken. All dies mindert aber nicht die Notwendigkeit der effektivsten aller Abkühlungen. Soll das Mädchen gesund bleiben, so muss es nun möglichst bald Geschlechtsverkehr haben, der schon im Alter von 13 Jahren als medizinische Notwendigkeit gilt. So konnte sich die katholische Moral auf dem Lande nie durchsetzen. Das Mädchen lebt nun einige Jahre von amane zu amane – längere oder kürzere erotische Beziehungen zu Männern.
Darin unterscheidet sich das Land mit seinen Einzelgehöften grundlegend von den kolumbianischen Kleinstädten, wo sich der Geist Spaniens in dieser Beziehung mehr oder minder verbreitet hat und da oder dort Jungfräulichkeit vor der Ehe zu einem Wert aufgestiegen ist, der erst in den letzten zwei Jahrzehnten wieder zerbröckelt. Ganz im europäischen Denken verhaftet, nennen gewisse Ethnologen die amanes "Probeehen". Wenn man bedenkt, dass z.B. Manuel Quintin Lame Chantre, der große Bauernführer des kolumbianischen Südwestens, in der ersten Hälfte des 20. Jh.s in seiner Jugend im Monat und selbst in der Woche of mehrere amanes hatte, so wird klar, wie verfehlt der Ausdruck "Probeehe" ist. Er beschreibt nur die sexuelle Freiheit der Jugend. Wenn man diese den Mädchen nicht lässt, so droht die Gefahr, dass sie loquitas werden, also geistig verwirrte, hochaggressive Frauen, die sich nackt an die Wege und Straßen setzen und oft auch die Vorbeikommenden mit Steinen bewerfen. Von jungen Frauen und Männern, denen in dieser Zeit die Geister schwer zu schaffen machen, habe ich bereits erzählt.
Nun, dies ist ein Ausnahmefall, auch wenn solche Geschichten nicht so selten sind. Die Eltern eines heranwachsenden Mannes plagt hauptsächlich die eine Angst. Sie fürchten, dass der junge Mann, der nicht beizeiten die Freuden der Liebe mit einer Frau erfährt, homosexuell werden könnte. Schafft es der Jüngling nicht rechtzeitig, sich auf eine amane einzulassen, so drückt ihm der Vater, die Mutter oder sonst ein Verwandter Geld in die Hand, damit er zu einer Prostituierten gehe, die es in jeder größeren Ortschaft gibt.

So beginnt das sexuell aktive Leben für Männer und Frauen in einem Alter, das viele Mitteleuropäer zur Entrüstung hinreißen würde. Obwohl die traditionelle Medizin über viele verhütende und noch mehr abtreibende Mittel verfügt, sind es meist nicht die jungen Mädchen, die sie nutzen. Erst wenn eine junge Frau ein Kind empfangen und geboren hat, fühlt sie sich als richtige Frau. Im Gegensatz zu den Städten finden Kinder auf dem Land leicht Aufnahme. In Tolima geht das so weit, dass Eltern ihre Töchter erst aus dem Haus lassen, wenn sie ihnen ein Kinder hinterlassen. [...]
Irgendwann wird aus einer amane eine feste Beziehung. Man zieht zu den Eltern des Mannes oder auch zu den Eltern der Frau, oder man schafft einen eigenen Hausstand. Im Hochland von Boyaca und Narina, wo der Einfluss der Kolonialgesellschaft stärker war, lässt man meist das Verhältnis vom Priester absegnen, im Magdalenental heiratet kaum ein Paar. Die Bindungen sind deshalb nicht weniger oder mehr stabil. [...]
Allgemein lässt sich über die kolumbianische Bauerngesellschaft sagen: Kein Mann kann ohne Frau zu Ansehen kommen, während bei einer Frau wichtiger ist, dass sie Kinder hat. Erst wenn es ein junger Mann geschafft hat, eine amane in eine feste Beziehung zu verwandeln, gilt er als erwachsen und endgültig dem Kindesalter entwachsen.

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Jedes Dorf feiert seine eigenen großen Feste, die das ganze Umland der Einzelgehöfte in Bewegung setzen. In den Dörfern werden Tanzböden aufgebaut, Musikgruppen bevölkern die Straßen und Wanderhuren reisen aus allen Gegenden an. Die Bauernfamilien finden bei Verwandten in der Nähe des Dorfes oder am Dorfrand Unterkunft.
Wer gesund ist, lässt sich kein Fest entgehen, wo von Anfang an Alkohol in Mengen fließt. Die Bauern erklären ihre Motive, auf ein Fest zu gehen, mit dem Sprichwort: "tomo, picho y peleo," d.h., ich trinke, habe ein Abenteuer mit einer fremden Frau und streite. So manche brave Bauernfrau nimmt es an diesen Tagen mit der Treue nicht so ernst. So lassen Eifersuchtsdramen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Dabei wird aber meist nicht der untreue Partner angegriffen, sondern der Nebenbuhler bzw. die Nebenbuhlerin, und das kann leicht zu schweren Verletzungen oder gar zum Tod führen. Je nach Gegend kämpft man mit dem Messer oder mit der Machete. Der Machetenkampf ist bis zu einem gewissen Grad ritualisiert: Zuerst schlägt man mit der Breitseite aufeinander, macht dabei keiner der beiden Kontrahenten einen Rückzieher, so dreht man auf die Schneide und versucht, dem Gegner eine Schnittwunde beizubringen. Dann steht die Menge um die Kampfhähne und feuert sie an. Will dabei kein Blut fließen, so kommt es bei vorgerückter Stunde durchaus vor, dass jemand das Licht löscht, damit endlich einer der beiden zu seinem Ziel kommt. Dass dabei so mancher sein Leben verliert, versteht sich von selbst. Niemandem würde es einfallen, den Sieger dafür bei der Polizei anzuzeigen. Offene Rechnungen können beim nächsten Fest beglichen werden.

Wie sehr der Tod von Menschen bei einem Fest in Kauf genommen wird, zeigt ein Erlebnis aus La Sierra in den Bergen von Cauca. Als ich zum ersten Mal in diese Ortschaft kam, streikte wieder einmal mein Geländewagen. Also machte ich den Dorfmechaniker ausfindig, der den Schaden in einer Viertelstunde behob. Die Zeit reichte aus, mich über die hervorragenden Feste in La Sierra zu informieren. Die seien so gut, dass es jedesmal mindestens drei Tote gäbe, schwärmte der Mechaniker. Frauen fühlen sich von den Kämpfen der Männer um sie geschmeichelt, und nichts ehrt ihre Weiblichkeit mehr, als wenn es dabei einen Toten gegeben hat. Mit Stolz wird die Umkämpfte berichten, "por mi se matan," wegen mir bringen sie sich um. Feste sind derart gefährlich, dass ich, seitdem mein Sohn auf die Welt kam, es vorziehe, diese zu meiden. Jeder weiß um die Gefahr, und doch freut sich ein jeder darauf und möchte das Fest nicht missen. Auf den Festen wird getrunken bis zum Umfallen, und es herrscht Narrenfreiheit, die alle Taten während der Festivität anschließend verzeihen lässt.
Nicht von ungefähr gehört ein rotgekleideter, tanzender Teufel, der niemals spricht, zu jedem Fest im Norden der Anden. Die Wildnis tanzt bei den Festen auf dem Dorfplatz.

S. 60 f.)
Der Todgeweihte wird von Menschen im Traum gesehen, die ihm im Leben wichtig waren. Auch geht er die Plätze ab, die im Laufe seines Daseins von Bedeutung waren. Er holt seine Spuren ein, sagt man (recoge los rastros). Der Tod eines Menschen stürzt seine Angehörigen in tiefe Gefahr: Das Eis oder die Kälte des Todes will ihnen ihre Lebenskraft rauben und bedroht sie mit schwerster Krankheit. Man spricht auch vom Horror des Todes. Davon betroffene Kleinkinder fallen z.B. um Monate in ihrer Entwicklung zurück. Viele Handlungen dienen dazu, diesen Schaden zu begrenzen. Die Bettwäsche muss verbrannt werden, und das Haus räuchert man aus, um ihm das Eis des Todes zu entziehen. In ganz besonderer Weise reinigt man in den Bergen des Cocuy die Kinder. Der Vater muss einen Hirsch schießen oder ein schwarzes Schaf schlachten, das auf dem paramo geweidet hat. Da die Schafe in der Wildnis weiden, besteht ihr Mageninhalt aus den besonders kräftigen Pflanzen, die auf dem paramo wachsen.
In diese geballte Lebenskraft hüllt man die Kinder ein. Dazu gibt man den Mageninhalt in eine Wolldecke, in die man die Kinder dann einwickelt. So rettet man die Kinder vor der Macht des Todes. Geschwächte Menschen dürfen auf keinen Fall zur Beerdigung kommen, denn nun könnte der Verstorbene noch versuchen, den geliebten Menschen mit sich zu nehmen. [...]
Das Eis des Todes gehört zu jedem Friedhof und durchtränkt die Friedhofserde in solchem Maße, dass sie dazu benutzt wird, besonders schweren Schadenszauber durchzuführen. Das Eis des Todes schwächt sich ab, wenn die Fleischteile verwest sind. Vieles von der Persönlichkeit eines Menschen bleibt allerdings in den Knochen erhalten. In Tolima und auch in Teilen der Ostanden herrscht ein regelrechter Knochenkult. Wenn die Fleischteile verwest sind, werden die Knochen besonders von bedeutenden Personen wieder ausgegraben.

Im Calarmagebirge stellt man den Schädel auf ein Brett über der Eingangstüre. Von dort aus wird er das Haus bewachen und durch sein Rumoren unerwünschte Eindringlinge vertreiben. Die Langknochen steckt man in die Felder. Sie pfeifen, wenn sich ein Dieb an die Anbaufrüchte wagt.
Dem Schädel von Medizinmännern kommt noch eine andere Bedeutung zu. Der Medizinmann im Vuelta del Rio macht keinen Hehl daraus, dass er immer den Schädel seines Großvaters und Lehrers als Berater bei sich trägt. Auch sein Bruder nahm sich einen Teil des Schädels, den Unterkiefer, denn der Großvater galt als sehr weiser Mann, und von dieser Weisheit wollte auch er etwas haben. Da sich dieser Heiler selbst für eine außerordentlich gescheite Person hält, hat er bereits seine Söhne angewiesen, seinen Kopf nach dem Tod erst gar nicht zu beerdigen, sondern sofort abzutrennen. Sein Schädel sei das wertvollste Erbe, das er ihnen hinterlassen könne.
Auch die Gebeine des Revolutionärs Manuel Quintin Lame sind inzwischen aus dem Grab verschwunden. Ich nehme an, dass in den Versammlungen des Indianerrates von Tolima, bei denen ausgerufen wird, dass Quintin Lame anwesend sei, zumindest sein Schädel wirklich zum Treffen mitgebracht wird, wie möglicherweise auch die Schädel anderer angerufener Indianerführer, wie Francisco Gonzales Sanchez und Eutimio Timoté.
Die kleinen Knochen eines Toten zermahlt man bisweilen und mischt sie in die chicha. Über den Sinn dieser Handlung gibt es drei Versionen. Die einen sagen, das mache man, um anderen locura aufzuhexen. Dies ist offensichtlich verbunden mit dem Konzept von Besessenheit durch Totenseelen. Andere behaupten, dass Frauen, die chicha verkaufen, auf diese Weise ihre Kundschaft an sich binden. Die dritte Version ist die häufigste: Man trinke die zermahlenen Knochen in chicha, um dadurch berraquera (Mut und Kraft) zu bekommen.

S. 62 f.)
Das schönste Bild vom Leben und vom Tod schildern die Coyaima. Jedermann kann dort die Geschichte von den Menschen und den Sternen schildern. Wenn ein Mensch geboren wird, erscheint am Himmel einer der unzähligen kleinen Sterne. Wie das Kind an Kraft gewinnt, nimmt die Leuchtkraft des Sternes zu, und wenn der Mensch wieder älter und schwächer wird, dann nimmt sein Licht wieder ab, bis es mit dem Tod völlig erlischt. Der Stern ist die eigentliche Persönlichkeit eines Menschen. Man sagt, die Menschen werden Diebe, Mörder, Heiler usw., weil ihr Stern ebenso ist. Der Stern besitzt von Anfang an alle Erlebnisse und alles Wissen, das eine Person im Laufe ihres Lebens erreichen kann. Nur den Heilern bleibt vorbehalten zu erkennen, welcher Stern am Himmel ihr zweites Ich darstellt, doch darauf müssen wir später noch einmal zurückkommen. In der Geburt trennen sich Stern und Mensch, um sich dann in der Todesstunden wieder zu vereinigen. Damit verlöschen aber beide und geben auf der Erde und am Himmel den Platz frei für ein neues Leben. Ich kann nicht beantworten, ob der neue Stern, der nach einiger Zeit an derselben Stelle erscheint, nun dieselbe Persönlichkeit eines Menschen mit gleichem Charakter darstellt, oder ob der neue Stern auch eine neue Persönlichkeit besitzt. Das Wiedererscheinen am selben Platz deutet allerdings auf eine Wiedergeburt hin.
Das Bild vom Lebensgleichlauf von Stern und Mensch lässt auch verstehen, warum das Leben nach dem Tod kein Thema in der Welt der Bauern darstellt. Das persönliche Leben ist ein Teil des Kosmos. Es schwillt an und erlischt, um denselben Vorgang aufs neue einzuleiten.